Bibel-Impulse

Das Evangelium nach Johannes

Das Johannesevangelium ist das jüngste Evangelium unseres Kanons. Es folgt nicht der Darstellung des Markus, sondern hat eine ganz eigene Art vom Messias Jesus zu erzählen. Johannes fokussiert seine Erzählung vom Messias Jesus auf dessen Verherrlichung am Kreuz der Römer. Im Namen des Gesetzes wird er gekreuzigt, „weil er sich als Sohn Gottes ausgegeben hat“ (19,7). Als „Sohn Gottes“ steht er gegen den Kaiser, der für sich in Anspruch nimmt, „Sohn Gottes“ zu sein. Dem von Rom Verurteilten gibt Gott in der Auferweckung des Gekreuzigten Recht und bestätigt seinen Messias, der den Weg der Solidarität bis zum Kreuz gegangen ist als den „Weg und die Wahrheit und das Leben“ (14,6). Ohne diese Solidarität kommt niemand zum Vater (vgl. 14,7).
Welche Anstöße kann dieses Evangelium uns heute geben der kapitalistischen Weltordnung, die bis an die Grenzen der Erde herrscht, zu widerstehen und an den Wegen der Befreiung festzuhalten? Diesen und weiteren Fragen geht Pastoralreferent Alexander Just nach. Dabei wird das Evangelium nach Johannes Abschnitt für Abschnitt gelesen und besprochen, wobei jeder Abend in sich abgeschlossen ist. Ein Einstieg ist daher jederzeit möglich und gewünscht.

Die Abende finden in Zusammenarbeit mit der Katholischen Familienbildungsstätte Andernach und dem Ökumenischen Netz Rhein-Mosel-Saar jeweils Montags um 18 Uhr in der Ludwig-Hillesheim-Str. 3 statt.

Die nächsten Termine sind:

27.02.2023, 27.03.2023, 24.04.2023, 22.05.2023, 19.06.2023, 24.07.2023, 25.09.2023, 30.10.2023, 27.11.2023

Die Auslegungen der vorangegangenen Abschnitte können Sie hier nachlesen bzw. hören.

  • Teil 16: Auslegung zu Joh 6, 22-40

    Teil 16, Johannes 6, 22-40

    Nachdem die Jünger*innen trotz des heftigen Sturmes das Ufer erreicht haben, das sie angesteuert hatten, wechselt die Szene zurück an den Ort der Brotvermehrung.

    Die Menge sucht Jesus, nach wie vor mit der Motivation, ihn zum König zu machen.

    Wir können davon ausgehen, dass die Menge zelotische Erwartungen hat, während sich hinter dem Murren „der Juden“, das mit V. 41 in den Blick kommt, eher Sichtweisen von Pharisäern aus der Zeit des Johannes aufgegriffen werden.

    Zunächst einmal geht es um „die Menge“. Sie – so Johannes –  sieht in Jesus denjenigen, der Israel von Rom befreit, und Israel als Königtum restituiert. Dazu gehört die Erwartung, dass alle satt werden. Diese Erwartung teilt Jesus, unterscheidet sich aber von den Vorstellungen der Menge dadurch, dass sein Königtum nicht Herrschaftsverhältnisse restituiert, sondern mit ihnen bricht. Sein Platz ist nicht an der Seite der Repräsentanten der Macht, sondern an der Seite der Opfer von Herrschaft. Sein „Königtum ist nicht von dieser Welt“, also nach der Art römischer Herrschaft. So wird er es gegenüber Pilatus zum Ausdruck bringen (Joh 18,23ff). Und Pilatus wird zu einem unfreiwilligen Zeugen der Wahrheit, wenn er den Gekreuzigten in der Inschrift über dem Kreuz als „König der Juden“ (Joh 19,19ff) proklamiert.

     

    Doch schauen wir zunächst in den Text:

     

    22 Am nächsten Tag stand die Menge am anderen Ufer des Sees; sie hatten gesehen, dass nur ein Boot dort gewesen war und dass Jesus nicht mit seinen Jüngern ins Boot gestiegen war, sondern dass seine Jünger allein abgefahren waren. 23 Von Tiberias her kamen andere Boote in die Nähe des Ortes, wo sie nach dem Dankgebet des Herrn das Brot gegessen hatten. 24 Als die Leute sahen, dass weder Jesus noch seine Jünger dort waren, stiegen sie in die Boote, fuhren nach Kafarnaum und suchten Jesus. 25 Als sie ihn am anderen Ufer des Sees fanden, fragten sie ihn: Rabbi, wann bist du hierhergekommen? 26 Jesus antwortete ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Ihr sucht mich nicht, weil ihr Zeichen gesehen habt, sondern weil ihr von den Broten gegessen habt und satt geworden seid. 27 Müht euch nicht ab für die Speise, die verdirbt, sondern für die Speise, die für das ewige Leben bleibt und die der Menschensohn euch geben wird! Denn ihn hat Gott, der Vater, mit seinem Siegel beglaubigt. 28 Da fragten sie ihn: Was müssen wir tun, um die Werke Gottes zu vollbringen? 29 Jesus antwortete ihnen: Das ist das Werk Gottes, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat. 30 Sie sagten zu ihm: Welches Zeichen tust du denn, damit wir es sehen und dir glauben? Was für ein Werk tust du? 31 Unsere Väter haben das Manna in der Wüste gegessen, wie es in der Schrift heißt: Brot vom Himmel gab er ihnen zu essen. 32 Jesus sagte zu ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Nicht Mose hat euch das Brot vom Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel. 33 Denn das Brot, das Gott gibt, kommt vom Himmel herab und gibt der Welt das Leben. 34 Da baten sie ihn: Herr, gib uns immer dieses Brot! 35 Jesus antwortete ihnen: Ich bin das Brot des Lebens; wer zu mir kommt, wird nie mehr hungern, und wer an mich glaubt, wird nie mehr Durst haben. 36 Aber ich habe euch gesagt: Ihr habt gesehen und doch glaubt ihr nicht. 37 Alles, was der Vater mir gibt, wird zu mir kommen, und wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen; 38 denn ich bin nicht vom Himmel herabgekommen, um meinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat. 39 Das aber ist der Wille dessen, der mich gesandt hat, dass ich keinen von denen, die er mir gegeben hat, zugrunde gehen lasse, sondern dass ich sie auferwecke am Jüngsten Tag. 40 Denn das ist der Wille meines Vaters, dass jeder, der den Sohn sieht und an ihn glaubt, das ewige Leben hat und dass ich ihn auferwecke am Jüngsten Tag.

    22 Am nächsten Tag stand die Menge am anderen Ufer des Sees; sie hatten gesehen, dass nur ein Boot dort gewesen war und dass Jesus nicht mit seinen Jüngern ins Boot gestiegen war, sondern dass seine Jünger allein abgefahren waren.
    Die zeitliche Einordnung „am nächsten Tag“ (V. 22)  deutet an, dass das Folgende mit der Brotvermehrung in direktem Zusammenhang steht. Johannes erzählt, dass die Menge am Morgen feststellt, dass Jesus nicht da ist. Da sie gesehen haben, wie die Jünger*innen ohne ihn abgefahren sind, können sie sich zunächst nicht erklären, wohin er verschwunden ist. Klaus Wengst erklärt die etwas weitläufige Schilderung mit der Bemerkung: „Der Abschnitt hat die Funktion, die inzwischen von Jesus getrennten Leute wieder mit ihm zusammenzubringen“[1]. Damit ist aber noch nicht alles gesagt.

    Auffällig ist vor allem der Hinweis, dass von Tiberias Leute zu dem Ort kamen, wo sie nach dem Dankgebet des Herrn die Brote gegessen hatten, und Jesus suchten. Johannes ist der Einzige der Evangelisten, der den Ort Tiberias erwähnt und auch das Meer von Galiläa zum Meer von Tiberias macht (vgl. 6,1). Es gibt wohl Quellen, die den Tod Johannes des Täufers in Tiberias vermuten. Da es der Regierungssitz des Herodes war, ist das durchaus möglich. Interessanter erscheint mir jedoch der Hinweis, dass Tiberias nach dem römisch-jüdischen Krieg bald zum geistig und religiösen Zentrum des sich herausbildenden rabbinischen Judentums wurde.

    Das ausgerechnet eine Stadt, die zu Ehren eines römischen Kaisers gegründet wurde, diese Rolle eingenommen hat, dürfte für Johannes nicht ohne Beigeschmack gewesen sein, insofern Johannes ja die Versuche pharisäischen Judentums seiner Zeit für verfehlt hält, unter der Akzeptanz römischer Herrschaft die Tora zu leben.

    Für Johannes hingegen ist die Perspektive der Befreiung von Rom unverzichtbar, wenn die Weisungen der Tora gelebt werden sollen. Im Gang seiner Erzählung findet das Zeichen der Brotvermehrung nahe Tiberias statt, während Jesus es in der Synagoge von Kafarnaum deutet. Wie das zusammenhängt, ist nicht so recht eindeutig. Eine Spekulation könnte in die Richtung gehen: Tiberias steht dafür, dass ganz Israel satt werden soll. Die Deutung dieses Zeichen kann aber nicht in der Logik der Herrschaft sein, die sich mit ‚Brot und Spielen‘ legitimiert. Sie kann sich nur aus einer messianischen Interpretation der Tora ergeben wie sie uns in Jesu Rede in der Synagoge von Kafarnaum begegnet.

     

    25 Als sie ihn am anderen Ufer des Sees fanden, fragten sie ihn: Rabbi, wann bist du hierhergekommen?
    Die Menge, erweitert um die Leute aus Tiberias, gelang ohne Sturm problemlos an das andere Ufer, nach Kafarnaum. Interessant ist die Frage, die sie nun stellen: Rabbi, wann bist du hierhergekommen? Nachdem die Zeitangabe zu Beginn am nächsten Tag lautete und sie ihn abends nicht haben mit den Jüngern abfahren sehen, kann er ja nur in der Nacht angekommen sein. Naheliegender wäre die Frage danach gewesen, wie Jesus nach Kafarnaum gekommen ist. Vielleicht steckt hinter der merkwürdigen Frage der Menge ein versteckter Hinweis darauf, dass sie nicht versteht, um was es geht, ihnen Jesu Weg verborgen bleibt wie sie ja auch von Jesu Gang auf dem See (V. 16ff) nichts mitbekommen haben (V. 16ff).

    26 Jesus antwortete ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Ihr sucht mich nicht, weil ihr Zeichen gesehen habt, sondern weil ihr von den Broten gegessen habt und satt geworden seid.
    Offensiv kommt das Unverständnis der Menge in Jesu konfrontativer Antwort zur Sprache. Ihnen geht es darum, unter einer neuen Herrschaft satt zu werden. Das Satt werden ist entscheidend wie Jesus im Zeichen der Brotvermehrung unterstrichen hat. Nicht weniger entscheidend ist aber die Deutung dieses Zeichens. Davon hängt nämlich ab, ob es Ausdruck der Legitimation von Herrschaft oder Zeichen der Befreiung von Herrschaft ist. Für Jesus ist klar: Es muss als Zeichen der Befreiung gelesen werden – und zwar so wie es sich aus der Schrift ergibt, die Israels durch die Wüste führenden Weg der Befreiung deutet. Zu lesen ist das Zeichen vor allem von dem her, was Dtn 8,3 so auf den Punkt bringt: „Er wollte dich erkennen lassen, dass der Mensch nicht nur von Brot lebt, sondern dass der Mensch von allem lebt, was der Mund des HERRN spricht.“

    Der Mensch lebt von Brot. Das wird unterstrichen. Wesentlich ist dabei aber, dass er „von allem lebt, was der Mund des HERRN spricht“. Damit wird das Brot nicht relativiert, sondern in den Horizont der Befreiung gestellt. Es ist eben ein ‚wesentlicher‘ Unterschied, ob das Brot aus Ägypten kommt und ‚Lohn‘ für die Unterwerfung ist oder ob es aus Verhältnissen der Befreiung kommt, die allen Zugang zu Land und damit zu Brot ermöglichen. 

    27 Müht euch nicht ab für die Speise, die verdirbt, sondern für die Speise, die für das ewige Leben bleibt und die der Menschensohn euch geben wird! Denn ihn hat Gott, der Vater, mit seinem Siegel beglaubigt.
    Die Formulierung „Speise, die verdirbt“ spielt auf die Brotvermehrung wie auch auf die Speisung Israels mit Manna auf seinem Weg durch die Wüste an, von der in V. 32ff ausdrücklich die Rede ist. Beides liegt auf einer Ebene: Es ist „Speise, die verdirbt“. Sie sättigt, dann aber kommt neuer Hunger, die eine erneute Speisung notwendig macht.  Von solcher Speise unterscheidet sich „die Speise, die für das ewige Leben bleibt und die der Menschensohn euch geben wird“. Was hier mit „ewiges Leben“ übersetzt wird, meint das Leben in einem neuen Zusammenhang, einem ‚Zeitalter‘, ‚Äon‘ jenseits von Verhältnissen, in denen der Zugang zu Brot von Herrschaftsverhältnissen abhängig ist. Dafür dass dieses neue ‚Zeitalter‘ endgültig ist, also nicht mehr zurück fällt in Zeiten der Herrschaft und der Sehnsucht nach alten Herrschaftszeiten wie Ägypten steht der Menschensohn. Ihn hat Gott selbst vor allem in der Auferweckung aus dem tödlichen Herrschaftszusammenhang Roms beglaubigt. Darauf kann die messianische Bewegung ‚Brief und Siegel nehmen‘. Aus der Perspektive des Menschensohns deutet sie die Tora als Werk und Wirken Gottes, in denen Werk und Wirken der Menschen ihren Ort und ihre Perspektive bekommen.

    28 Da fragten sie ihn: Was müssen wir tun, um die Werke Gottes zu vollbringen? 29 Jesus antwortete ihnen: Das ist das Werk Gottes, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat.
    Die Frage zielt darauf, wie das denn nun ‚konkret‘ gehen soll, „die Werke Gottes zu vollbringen“. Zu vollbringen sind Gottes Werke der Schöpfung und der Befreiung. Beides geht nicht ohne Befreiung als Bruch mit der Herrschaft als ‚Schöpfung‘ Roms. Dies ist im Menschensohn Wirklichkeit geworden. In ihm ist Gott selbst am Werk und wirkt neue Schöpfung und Befreiung. Dazu hat er ihn gesandt. Damit ist alles gesagt und zwar ‚ganz konkret‘. Damit gilt es sich anzuvertrauen und die Wege Gottes zu gehen wie es der Menschensohn getan hat. Auf diesem Weg wird die Weltordnung gebrochen und neues Leben geschaffen. „Damit die Werke Israels nicht ins Leere gehen, damit Israel nicht ohne radikale Perspektive vor sich hin ‚werkelt‘, ist das Vertrauen auf den Messias eine notwendige Bedingung.“[2]

    30 Sie sagten zu ihm: Welches Zeichen tust du denn, damit wir es sehen und dir glauben? Was für ein Werk tust du? 31 Unsere Väter haben das Manna in der Wüste gegessen, wie es in der Schrift heißt: Brot vom Himmel gab er ihnen zu essen.
    Die ‚konkrete‘ Antwort scheint angekommen. Aber auch das genügt nicht. Gefragt wird nun nach deren Beglaubigung. Dahinter steht ein ernstes Problem, mit dem die messianische Gemeinde sich konfrontiert sieht:

    Wo wird denn so sichtbar, dass wir es auch „sehen“ können, dass mit dem Menschensohn eine neue Ära angebrochen ist? Real ist ja zu „sehen“, dass die Herrschaft Roms weitergeht. Sie hat sich in der Zerstörung des Tempels und in der Vertreibung von Juden über das ganze Reich hin noch einmal besonders drastisch und in katastrophischen Dimensionen gezeigt. Vor diesem Hintergrund erscheint das „verderbliche“ Manna, das „vom Himmel“ kam als Israel in der Wüste zu verhungern drohte und zurück nach Ägypten wollte, als Ausdruck eines ‚Idealzustands‘. „Unsere Väter“ bekamen wenigstens das Manna als „Brot vom Himmel“. Von der „Speise, die nicht verdirbt“ ist weit und breit nichts zu „sehen“.  

    32 Jesus sagte zu ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Nicht Mose hat euch das Brot vom Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel. 33 Denn das Brot, das Gott gibt, kommt vom Himmel herab und gibt der Welt das Leben.
    Jesu Antwort setzt voraus, dass es auch der Vater war, der den Vätern das Manna als „Brot vom Himmel“ gegeben hat. Das war als Krisenintervention ‚Not-wendig‘, um durch die Wüste in das verheißene Land zu kommen. Es ist auffällig und kein Zufall, dass der Satz von einer Vergangenheitsform ins Präsens wechselt: „Mein Vater gibt...“ Angesichts der scheinbaren Endgültigkeit römischer Herrschaft reicht das Manna als verderbliches Krisenbrot nicht mehr aus. Um mit der Herrschaft Roms brechen zu können, ist „das wahre Brot vom Himmel“, der Menschensohn selbst, ‚Not-wendig‘, sein Leben, das mit den römischen Verhältnissen so radikal bricht, dass es an ihnen zugrunde geht, von Gott aber gerade darin beglaubigt wird.

    34 Da baten sie ihn: Herr, gib uns immer dieses Brot! 35 Jesus antwortete ihnen: Ich bin das Brot des Lebens; wer zu mir kommt, wird nie mehr hungern, und wer an mich glaubt, wird nie mehr Durst haben.
    Die Menge bittet Jesus nun, ihr immer dieses Brot zu geben. Er spricht aus, dass er selbst, sein Leben, sein Tod am Kreuz der Römer und seine Beglaubigung durch Gott in der Auferweckung von den Toten dieses Brot ist. In der Formulierung „Ich bin“ kommt wieder der Gottesname ins Spiel. In seinem Menschensohn lässt Gott all das geschehen, was Inhalt seines Namens ist. Wo Gott als Befreier zur Geltung kommt, da gilt: Niemand wird mehr hungern und dürsten. Für Johannes geschieht dies im Menschensohn. Daher kommt alles darauf an, an ihm, an seinem Leben Maß zu nehmen, wenn eine Perspektive auf Befreiung wirksam und Wirklichkeit werden soll. Er ist das Brot und das Wasser des Lebens wie in der Begegnung mit der Frau aus Samaria (Joh 4) deutlich geworden ist. Der Messias ist Brot und Wasser des Lebens, mehr braucht Israel nicht, weil in ihm Gottes Befreiungsgeschichte lebendig ist.

    37 Alles, was der Vater mir gibt, wird zu mir kommen, und wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen; 38 denn ich bin nicht vom Himmel herabgekommen, um meinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.
    Alles ist Jesus von seinem Vater übergeben. In ihm wird Gottes Königsherrschaft Wirklichkeit, gerade dadurch, dass der Menschensohn niemanden abweist, der zu ihm kommt, sondern ihn auf seinem Weg der Befreiung mitzieht, mitschleppt wie Gott sein Volk durch die Wüste geschleppt hat. Dass Israel gesammelt, aufgerichtet, durchgeschleppt wird ist der Wille des Vaters und Inhalt der Sendung des Menschensohns.

    39 Das aber ist der Wille dessen, der mich gesandt hat, dass ich keinen von denen, die er mir gegeben hat, zugrunde gehen lasse, sondern dass ich sie auferwecke am Jüngsten Tag.
    Das zuvor positiv Gesagte wird nun auch noch einmal negativ unterstrichen: Niemand soll „zugrunde gehen“. Das gilt vor allem angesichts der bedrohlichen Macht des römischen Imperiums. Als Jesus festgenommen wird, tritt er dafür an, dass seiner Jünger*innen gehen können. Und Johannes kommentiert: „So sollte sich das Wort erfüllen, das er gesagt hatte: Ich habe keinen von denen verloren, die du mir gegeben hast“ (18,9). In der Stunde der Gefahr wird das besonders dringlich, was er Zeit seines Lebens getan und in seinem letzten Gebet zum Ausdruck gebracht hatte: „Solange ich bei ihnen war, bewahrte ich sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast. Und ich habe sie behütet und keiner von ihnen ging verloren“ (17,12). Genau das ist Jesu Hirtenaufgabe angesichts der Gefahren, die von der römischen Wölfin drohen (10,1ff): „Ich gebe ihnen ewiges Leben. Sie werden niemals zugrunde gehen und niemand wird sie meiner Hand entreißen. Mein Vater, der sie mir gab, ist größer als alle und niemand kann sie der Hand meines Vaters entreißen. Ich und der Vater sind eins“ (10,28ff).

    Dass niemand zugrunde geht, gilt auch im Blick auf „den letzten Tag“, der in unserer Übersetzung der „Jüngste Tag“ genannt wird. Niemand soll ‚auf der Strecke‘ bleiben, auch diejenigen nicht, die vernichtet wurden, bevor die kommende Welt Wirklichkeit werden konnte. Es geht um die Überwindung geschichtlicher Herrschaft und zugleich um das Überschreiten der Geschichte als Ganzer im Blick darauf, dass niemand verloren geht.

    40 Denn das ist der Wille meines Vaters, dass jeder, der den Sohn sieht und an ihn glaubt, das ewige Leben hat und dass ich ihn auferwecke am Jüngsten Tag.
    Die Hoffnungen, die sich mit dem Menschensohn und dem Brot, das er ist, verbinden, sind maßlos wie Gott selbst. Sie geben sich mit nicht weniger als damit zufrieden, dass niemand verloren geht in der Geschichte gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse und über die Geschichte hinaus. Wenn das als Befreiung in der Geschichte und über die Geschichte hinaus Wirklichkeit werden soll, geht das nicht ohne den Bruch mit Herrschaft – wie am Leben des Messias, das zum Brot des Lebens wird, „zu sehen“ ist.

    Herrschende Theologie und Kirchenreformer „sehen“ da gar nichts. Traditionalisten verbarrikadieren sich vor den Bedrohungen und Wirrnissen, die mit den modernen Freiheiten einhergehen. Liberale Theologien, die sich mehr an Kant als an der biblischen Befreiungsgeschichte orientieren, schaffen es, von Freiheit zu schwadronieren ohne den Begriff Herrschaft in den Mund bzw. in den Text zu nehmen. Freiheit wird zu einem rein formalen Begriff, der mit allem und jedem kompatibel sein kann. Wo Freiheit formal wird, ist Geschichte verzichtbar bzw. wird sie auf Geschichtlichkeit reduziert und existenzialisiert. Entsprechend wird die biblische Geschichte der Befreiung auf Freiheit hin formalisiert und so um ihren materialen Gehalt gebracht. Freiheit geht dann ganz ohne Bezug auf Ägypten, auf Rom und den Kapitalismus samt seiner Freiheit zu unterwerfen bis hin zur größten Freiheit, sich selbst den Krisenverhältnissen anzupassen und dies als Ausdruck freier Selbstverwirklichung abzufeiern.

    Im Horizont solcher Freiheit soll die Kirche reformiert werden. Da gehen viele verloren und zugrunde – all die Opfer einer ‚Freiheit an sich‘, die ohne Irritation durch reale Herrschaft ihren Ausdruck in kapitalistischen Verhältnissen findet. Freiheit ist aber nicht ohne Befreiung von Herrschaft zu haben – gesellschaftlicher wie klerikaler. Der Weg zur Befreiung führt nicht an den Opfern, die ‚in Freiheit‘ verloren gehen, vorbei, sondern über die Rettung all derer, die der Messias nicht verloren gehen lassen will, die aber ‚in Freiheit‘ dem Untergang preisgegeben werden.   

     


    [1]Klaus Wengst, Das Johannesevangelium. Theologischer Kommentar zum Neuen Testament, Band 4, Stuttgart 2019, 195.

    [2]Ton Veerkamp, Der Abschied des Messias. Eine Auslegung des Johannesevangeliums. I. Teil Johannes 1,1-10,21, in: Texte & Kontexte Nr. 109-111, 29. Jahrgang 1-3/2006, 116.

  • Teil 15: Auslegung zu Joh 6, 1-21

    Teil 15, Johannes 6, 1-21

    Als die Menschen das Zeichen sahen, das er getan hatte, sagten sie:  Das ist wirklich der Prophet, der in die Welt kommen soll. (Joh 6,14)

    Das 5. Kapitel endet mit einer langen Rede Jesu im Anschluss an die Heilung des Gelähmten bei einem Fest in Jerusalem. Das 6. Kapitel setzt an einem ganz anderen Ort, „am anderen Ufer des Sees von Galiläa“ (6,1) wieder ein. Dieser Sprung hat immer wieder Exegeten zu Überlegungen bewogen, den Text umzustellen, weil sie einen Eingriff in den ursprünglichen Text vermuten. Dies wäre aber nur notwendig, wenn wir von einem linear an den Zeitabläufen orientiertem chronologischen Bericht über das Wirken Jesu ausgehen würden. Davon kann jedoch in den Evangelien keine Rede sein. Es sind theologische Texte, die gemäß der jüdischen Tradition in Erzählungen ihren Ausdruck finden. "Es geht in unserem Text um eine Ort/Zeit-Struktur, die nicht durch das Chronometer und die Landkarte, sondern durch die Feste strukturiert wird. Das unbestimmte Fest von 5,1 ist das Fest der Feste: die Wiederherstellung der Bewegungsfreiheit Israels, sprich, seine Autonomie, der eigentliche Inhalt aller Feste.”[1]

    Auf dieses Fest folgt hier die Ernährung Israels, verortet in der Nähe des Paschafestes, am anderen Ufer des Sees. Der Erzählfaden des Johannes ist also weniger von zeitlichen Abläufen als vom Inhalt der Feste geprägt.  

    Doch schauen wir zunächst in den Text:

    1 Danach ging Jesus an das andere Ufer des Sees von Galiläa, der auch See von Tiberias heißt. 2 Eine große Menschenmenge folgte ihm, weil sie die Zeichen sahen, die er an den Kranken tat. 3 Jesus stieg auf den Berg und setzte sich dort mit seinen Jüngern nieder. 4 Das Pascha, das Fest der Juden, war nahe. 5 Als Jesus aufblickte und sah, dass so viele Menschen zu ihm kamen, fragte er Philippus: Wo sollen wir Brot kaufen, damit diese Leute zu essen haben? 6 Das sagte er aber nur, um ihn auf die Probe zu stellen; denn er selbst wusste, was er tun wollte. 7 Philippus antwortete ihm: Brot für zweihundert Denare reicht nicht aus, wenn jeder von ihnen auch nur ein kleines Stück bekommen soll. 8 Einer seiner Jünger, Andreas, der Bruder des Simon Petrus, sagte zu ihm: 9 Hier ist ein kleiner Junge, der hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische; doch was ist das für so viele? 10 Jesus sagte: Lasst die Leute sich setzen! Es gab dort nämlich viel Gras. Da setzten sie sich; es waren etwa fünftausend Männer. 11 Dann nahm Jesus die Brote, sprach das Dankgebet und teilte an die Leute aus, so viel sie wollten; ebenso machte er es mit den Fischen. 12 Als die Menge satt geworden war, sagte er zu seinen Jüngern: Sammelt die übrig gebliebenen Brocken, damit nichts verdirbt! 13 Sie sammelten und füllten zwölf Körbe mit den Brocken, die von den fünf Gerstenbroten nach dem Essen übrig waren. 14 Als die Menschen das Zeichen sahen, das er getan hatte, sagten sie: Das ist wirklich der Prophet, der in die Welt kommen soll. 15 Da erkannte Jesus, dass sie kommen würden, um ihn in ihre Gewalt zu bringen und zum König zu machen. Daher zog er sich wieder auf den Berg zurück, er allein. 16 Als es aber Abend geworden war, gingen seine Jünger zum See hinab, 17 bestiegen ein Boot und fuhren über den See, auf Kafarnaum zu. Es war schon dunkel geworden und Jesus war noch nicht zu ihnen gekommen. 18 Da wurde der See durch einen heftigen Sturm aufgewühlt. 19 Als sie etwa fünfundzwanzig oder dreißig Stadien gefahren waren, sahen sie, wie Jesus über den See kam und sich dem Boot näherte; und sie fürchteten sich. 20 Er aber rief ihnen zu: Ich bin es; fürchtet euch nicht! 21 Sie wollten ihn zu sich in das Boot nehmen, aber schon war das Boot am Ufer, das sie erreichen wollten.

    Wir können davon ausgehen, dass Johannes die synoptischen Evangelien oder Traditionen, die sich auch bei ihnen finden, kannte. Neben der Heilung des Sohnes des königlichen Beamten (4,43ff) und der Auseinandersetzung mit den Händlern im Tempel (2,14ff) gehört auch die folgende Stelle zu den gemeinsamen Traditionselementen.

    1 Danach ging Jesus an das andere Ufer des Sees von Galiläa, der auch See von Tiberias heißt.
    Johannes verlegt das folgende Geschehen ans andere Ufer des Meeres von Galiläa wie es griechisch heißt. Johannes gebraucht wie Markus und Matthäus die Bezeichnung Meer von Galiläa für den See Genezareth, fügt jedoch die Doppelbezeichnung Meer von Tiberias hinzu. Dass der See Genezareth als Meer bezeichnet wird, geschieht weder zufällig, noch aufgrund fehlender Ortskenntnis oder Weltsicht, sondern hat einen theologischen und damit gesellschaftskritischen Sinn.

    Meer ruft die Chaosfluten in Erinnerung, die Gott bändigt, aber auch die Befreiung des Volkes Israels durch das Schilfmeer. Das Meer ist dabei im biblischen Verständnis ein Bild für die Völkerwelt, die Israel und den Zion nach biblischer Wahrnehmung permanent zu überfluten drohte. „Das ‚Meer‘ in den Evangelien gehört in den traditionsgeschichtlichen Bogen, der von Dan 7,3 bis zu Offb 13,1 reicht: von den vier Weltreichen, die in Gestalt von vier Tieren aus dem Meer aufsteigen, hin zu jenem einen ‚Tier aus dem Meer‘, einem Bild für die Herrschaft Roms.

    Inwieweit Johannes auch den römisch-jüdischen Krieg im Blick hat (wie es bei Markus ganz stark ist), können wir nicht mehr klären. Die Doppelbezeichnung als Meer von Tiberias deutet aber darauf hin, dass er zumindest auf die römische Herrschaft und ihre Schrecken anspielt. Diese zeigte sich ja auch darin, dass im Krieg Roms gegen die Juden viele in den Fluten des Meers von Galiläa umkamen.

    2 Eine große Menschenmenge folgte ihm, weil sie die Zeichen sahen, die er an den Kranken tat.
    Mit dem Hinweis auf die Kranken nimmt Johannes die Erzählungen von der Heilung des Sohnes eines römischen Hauptmanns (4,46ff.) sowie der Heilung des Gelähmten (51ff.) auf. Der Hinweis auf die Zeichen darf nicht als Indikator für einen mangelnden Glauben der ‚Menschenmenge‘, die Jesus folgt, interpretiert werden, so als komme der vollkommene Glaube als ‚innerer‘ Glaube ohne Zeichen aus, während ein demgegenüber defizitärer Glaube auf die Sichtbarkeit eines Zeichens angewiesen sei. Das Erste Testament erzählt davon, dass Gott Israel unter ‚Zeichen und Wundern‘ aus Ägypten befreit und in das Land der Verheißung geführt habe. Dass hier ‚Zeichen und Wunder‘ geschehen, ist Ausdruck dafür, dass Gott auf diesem Weg ‚am Werk‘ ist, dass hier ‚geschieht‘, was er mit seinem Namen versprochen hat. In dieser Tradition ist auch die Rede des Johannes von den Zeichen zu verstehen. Das Handeln Jesu ist ‚transparent‘ für Gottes Wirken. Im Handeln Jesu führt Gott sein Werk der Befreiung weiter. Dies gilt es ‚zu sehen‘, zu erkennen. Die „große Menschenmenge“ die Jesus folgt, scheint davon etwas begriffen zu haben.

    3 Jesus stieg auf den Berg und setzte sich dort mit seinen Jüngern nieder. 4 Das Pascha, das Fest der Juden, war nahe.
    Dass Jesus „auf den Berg“ stieg, erinnert an die Bergpredigt (Mt 5,1ff), in der Jesus, als er „die vielen Menschen sah“ seine Jünger*innen die Tora lehrt. Auch, das, was Johannes im Folgenden erzählt, ist eine Lehre. Er erzählt von einer Brotvermehrung und deutet sie als ein Zeichen. Entscheidend für die Erzählung und ihre Deutung ist, die Nähe des Paschas. In der Perspektive des Paschafestes erzählt und deutet Johannes das Geschehen. Es geht um die Ernährung Israels und darin um Fragen wie: Wie und wovon ernährt sich Israel? Wer gibt ihm Nahrung und welche Nahrung stärkt das Volk auf seinem Weg?

    5 Als Jesus aufblickte und sah, dass so viele Menschen zu ihm kamen, fragte er Philippus: Wo sollen wir Brot kaufen, damit diese Leute zu essen haben? 6 Das sagte er aber nur, um ihn auf die Probe zu stellen; denn er selbst wusste, was er tun wollte.
    Jesus erhob seine Augen zum Himmel“. Mit dieser Bemerkung leitet Johannes seine Darstellung von Jesu letztem Gebet ein, nachdem Jesus seinen Jünger*innen seinen ‚Weggang‘ zum Vater gedeutet hatte (Joh 17). In unserer Szene heißt bzw. wird übersetzt: „Als Jesus aufblickte...“ Diese Übersetzung macht die Verbindung der einleitenden Bemerkungen vor Jesu Gebet bzw. vor unserer Szene unsichtbar. In dem einen Fall erhebt er die Augen zum Himmel, in unserer Szene zu den „vielen Menschen“. Offensichtlich sind das ‚Erheben der Augen“ zu den „vielen Leuten“ und „zum Himmel“ zwei Seiten derselben Medaille. Seine „Augen zum Himmel“ erhebt der Jesus, der das Leid der vielen Leute und die Not der Jünger*innen sieht, ihren messianischen Weg ohne seine mittelbare Gegenwart unter den Gewaltverhältnissen Roms gehen zu müssen. Wovon können die Leute und wovon die Jünger*innen in ihrer Verzweiflung ‚zehren‘?

    In unserer Szene eröffnet das „Erheben der Augen“ den Blick auf die Brotlosigkeit der „vielen Leute“ und die Not, sich zu ernähren. Diese Not spiegelt sich in der Frage des Philippus: „Wo sollen wir Brot kaufen…?“ Die Antwort, die Johannes in der Erzählung seiner Geschichte gibt, dürfte von einer Erzählung über den Propheten Elischa (2 Kön 4,42ff) inspiriert sein. Der Prophet Elischa ist in Galiläa. Es herrscht eine große Hungersnot. Da kommt ein Mann und bringt 20 Gerstenbrote. “Elischa sagte: Gib es den Leuten zu essen! Doch sein Diener sagte: Wie soll ich das hundert Männern vorsetzen? Elischa aber sagte: Gib es den Leuten zu essen! Denn so spricht der HERR: Man wird essen und noch übrig lassen. Nun setzte er es ihnen vor; und sie aßen und ließen noch übrig, wie der HERR gesagt hatte.” (2 Kön 4,42ff)

    Johannes deutet die Hungersnot auf seine Zeit: Auch nach der Katastrophe des Krieges im Jahr 70 verhungert Israel und sieht keinen Ausweg aus der Not, unter der Herrschaft Roms, als von Gott befreites Volk leben und sich ernähren zu können. Daher ist es kein Zufall, dass sich in allen Evangelien Geschichten von der Brotvermehrung finden. Vergleiche können unterschiedliche Akzente deutlich machen, die von den Evangelisten gesetzt werden. In der Erzählung des Markus (6, 30ff.) wollen die Jünger*innen die Leute wegschicken, damit sie sich „zu essen kaufen können“ (6,36). Auch als Jesus sagt: „Gebt ihr ihnen zu essen!“ bleiben sie beim Kaufen und machen sich Gedanken darüber, dass dazu das Geld nicht reicht (6.37).

    Im Vergleich dazu hat Johannes einiges auf den Kopf gestellt. Er erzählt aus der Perspektive Jesu, der „wusste, was er tun wollte“. Seine Frage nach dem Kaufen will Philippus „auf die Probe“ stellen. Es ist die Frage, mit der sich Jakob (Israel) schon gequält hat, bevor er seine Söhne los schickte um in Ägypten Getreide zu kaufen (Gen 42). Diese Frage nach dem Kaufen und woher das Geld dazu kommen soll, wird in der Geschichte, die Johannes erzählt zur Frage,woher das Brot kommen kann, damit die Leute zu essen haben. Es geht in die Richtung, die in der Erzählung von Elischa schon vorgegeben ist. Sie geht vom Brot aus, von 20 Gerstenbroten. Die Frage, ob das reicht, bezieht sich unmittelbar auf das Brot, nicht auf das Geld. Die Antwort ist einfach: „Gib es den Leuten zu essen.“ Sie ist verbunden mit einer Verheißung: „Man wird es essen und noch übrig lassen“. Und das Verheißene geschieht.

    7 Philippus antwortete ihm: Brot für zweihundert Denare reicht nicht aus, wenn jeder von ihnen auch nur ein kleines Stück bekommen soll.
    Philippus vertritt das ‚Realitätsprinzip‘. Er stellt es - verglichen mit der Erzählung von Elischa – gegen die Verheißung. Deren Logik kommt da zum Ausdruck, wo es bei Jesaja im 55. Kapitel heißt:

    “Auf, alle Durstigen, kommt zum Wasser! / Die ihr kein Geld habt, kommt, kauft Getreide und esst, kommt und kauft ohne Geld / und ohne Bezahlung Wein und Milch! Warum bezahlt ihr mit Geld, was euch nicht nährt, / und mit dem Lohn eurer Mühen, / was euch nicht satt macht?”

    In dieser Logik wird deutlich worum es Jesus geht. Die Lösung kann nicht sein, Geld zu besorgen, um unter den herrschenden Verhältnissen Brot zu kaufen. Vielmehr sind die Verhältnisse zu überwinden, die Israel brotlos machen, die es also verhindern, dass Israel nach der Tora lebt, d.h. nach Orientierungen, die allen Land zuteilt, von dem sie sich ernähren können. Das Land, von dem sich ganz Israel ernähren soll, hat Gott seinem Volk nach der Befreiung aus Ägypten geschenkt. Dass es um die Ernährung ganz Israels geht, zeigt sich in der Geschichte von Elischa in der Bemerkung: „Man wird essen und noch übrig lassen.“ In der Erzählung von einem einzelnen Geschehen wird transparent, worum es für Israel als Ganzes gehen muss.

    8 Einer seiner Jünger, Andreas, der Bruder des Simon Petrus, sagte zu ihm: 9 Hier ist ein kleiner Junge, der hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische; doch was ist das für so viele?
    Nach Philippus tritt nun Andreas auf. Er hat einen kleinen Jungen entdeckt, der fünf Gerstenbrote und zwei Fische dabei hat. Doch auch Andreas bleibt skeptisch und fragt, wie das für alle reichen soll. Auch hier haben wir zwei Besonderheiten im Evangelium nach Johannes. Nicht die Jünger*innen haben die fünf Gerstenbrote und die zwei Fische, sondern ein kleiner Junge. Von Gerste ernähren sich die Armen Leute. Zwei Fische sind – wie wiederum wörtlich übersetzt werden könnte – ein Zubrot. Mit den Gerstenbroten und dem „kleinen Jungen“ (gr. paidarión) wird wieder ein Faden aus 2 Kön 4,42-44 aufgenommen. Den kleinen Jungen (paidarión) hält Klaus Wengst für einen “Bauchladenverkäufer”[2], also einen armen Straßenverkäufer, ohne das jedoch näher zu erläutern. Bemerkenswert ist aber auch, dass der Diener in der Erzählung des Elischa in der Septuaginta ebenfalls paidarión, jugendlicher Sklave, genannt wird. “Der Anklang an 2 Kön 4 lässt Jesus in biblischer, prophetischer Tradition stehen.”[3] Denkbar ist zwar, dass mit den vielen Leuten auch Verkäufer mitgezogen sind, in der Hoffnung unterwegs etwas verkaufen zu können, doch dass Jesus das Brot und die Zubrote bei dem Jungen kauft, berichtet Johannes nicht. Vielmehr nimmt Jesus sie sich einfach.

    Der Paidarión dient also in erster Linie dazu, zu erklären, wo das Brot herkommt, wenn es nicht im Besitz der Jünger*innen war. Es ‚findet sich‘. Vielleicht kann darin eine Anspielung darauf gesehen werden, dass das Brot, das nährt, eine Gabe Gottes in dem Sinne ist, dass es dem Volk mit dem Land geschenkt ist.

    10 Jesus sagte: Lasst die Leute sich setzen! Es gab dort nämlich viel Gras. Da setzten sie sich; es waren etwa fünftausend Männer. 11 Dann nahm Jesus die Brote, sprach das Dankgebet und teilte an die Leute aus, so viel sie wollten; ebenso machte er es mit den Fischen.
    Jesus ergreift erneut die Initiative. Er fordert die Jünger*innen auf, dafür zu sorgen, dass die Leute sich zum Mahl niederlassen, trotz der geringen Anzahl an Speise. Der Hinweis “Es gab dort nämlich viel Gras” mutet merkwürdig an, da man sich ja auch auf Steinboden hätte setzen können. Es ist möglicherweise ein Relikt der Tradition, das bei Markus im Gegensatz zum wüsten (verwüsteten) Ort der Beginn neuen Lebens symbolisiert. Gras ist hier schon reichlich vorhanden, es schafft eine freundliche Atmosphäre für die 5 mal 1000 Männer. Auch hier werden die Frauen und Kinder nicht eigens genannt, was in einer patriarchalen Welt normal war, sie werden aber dabei gewesen sein. Die Zahl 5 (5 Brote 5, mal Tausend Männer) ist jedoch interessant. Wie bei den Synoptikern dürfte sie ein Hinweis auf die fünf Bücher Mose sein, also ein Hinweis darauf, dass sich Israel aus der Tora nähren soll, also von dem Land, das Gott geschenkt hat und aus den Weisungen, mit dem Land so umgehen, dass es Nahrung für ganz Israel sein kann.

    Jesus nimmt nun die 5 Brote und spricht wie der Hausvater das Dankgebet Israels (eucharistein). “Gesegnet Du, Adonaj, unser Gott, König der Welt, der Brot aus der Erde hervorgehen lässt.”[4] Anschließend verteilt er es an die Leute. Die Jünger*innen werden hier nicht erwähnt. Johannes ist es wichtig, den Messias Jesus als den Ernährer herauszustellen, der das nimmt, was er in Israel vorfindet und davon das Volk ernährt. Auch das Zubrot, die zwei Fische, segnet Jesus und verteilt sie ebenso. Fünf und zwei ergibt sieben. Sieben ist die Zahl der Fülle oder Vollkommenheit. Es ist also genug für alle da. Bei der Bemerkung, Jesus habe ausgeteilt. „so viel sie wollten“ ist weder an Völlerei noch an Vorstellungen vom Schlaraffenland zu denken. Dass alle bekommen, „so viel sie wollen“ gehört schlicht zu einem gemeinsamen Essen und erst recht zu dem, der einlädt und austeilt.

    12 Als die Menge satt geworden war, sagte er zu seinen Jüngern: Sammelt die übrig gebliebenen Brocken, damit nichts verdirbt! 13 Sie sammelten und füllten zwölf Körbe mit den Brocken, die von den fünf Gerstenbroten nach dem Essen übrig waren.
    Nun kommen die Jünger*innen doch noch zum Einsatz. Sie dürfen die Reste einsammeln, damit nichts verloren geht. Auch das entspricht jüdischer Tischsitte. Dabei wird zugleich deutlich, dass es bei den in zwölf Körbe gefüllten Resten, darum geht, dass alle zwölf Stämme Israels satt werden sollen. Das, was an ‚Überfluss‘ übrig bleibt, ist keine Anspielung auf ein Schlaraffenland, sondern auf den Rest Israels, der auch satt werden soll. Auch die Bemerkung „damit nichts verdirbt“, wörtlich: „damit nichts verloren geht“ könnte eine Anspielung darauf sein, dass ‚nichts verloren‘ geht, damit Israel ‚nicht verloren‘ geht, wenn Reste von Israel brotlos auf der Strecke bleiben. Das gleiche griechische Wort steht auch an anderen Stellen unseres Evangeliums. So ist z.B. im Zusammenhang mit der Darstellung Jesu als des guten Hirten Israels davon die Rede, dass die ihm anvertrauten Schafe nicht verloren bzw. zugrunde gehen (10,28). Auch bei seiner Festnahme sorgt Jesus dafür, dass seine Jünger*innen gehen können; denn Jesus steht zu seinem Wort: „Ich habe keinen von denen verloren, die du mir gegeben hast.“ (18,9). Das hatte Jesus in seinem letzten Gebet zum Vater als ‚Bilanz‘ seines Lebens gesagt: „Ich habe sie behütet und keiner von ihnen geht verloren“ (17,12).

    Von hier her ergibt sich noch einmal ein Blick auf die, die Reste einsammelnden, Jünger*innen. Sie können den Dienst, dafür zu sorgen, dass Israel nicht verloren geht, nicht ‚aus sich selbst‘ tun, sondern nur aus der Verwurzelung im Messias, wenn sie sich also nicht vom Messias zurückziehen (6,66), sondern mit ihm verbunden bleiben wie die Rebe mit dem Weinstock (15).

    14 Als die Menschen das Zeichen sahen, das er getan hatte, sagten sie: Das ist wirklich der Prophet, der in die Welt kommen soll. 15 Da erkannte Jesus, dass sie kommen würden, um ihn in ihre Gewalt zu bringen und zum König zu machen. Daher zog er sich wieder auf den Berg zurück, er allein.
    Die Menschen deuten das Zeichen der Brotvermehrung richtig. Es ist ein Zeichen der Nähe Gottes. Entsprechend sagen sie: “Das ist wirklich der Prophet, der in die Welt kommen soll.” Dies entspricht der Erwartung eines Propheten wie Mose wie sie im Buch Deuteronomium formuliert ist (Dtn 18,15.18). Dennoch ziehen sie daraus die falsche Konsequenz und wollen ihn „zum König machen“. Propheten sind in der Tradition Israels keine Könige, sondern deren Kritiker. Sie gehen auf Distanz zur Macht und zu Machtverhältnissen. Zudem bringt die Verbindung von Brot und Königtum Jesus in die Nähe der römischen Praxis, Herrschaft durch Brot und Spiele zu legitimieren. Die einmal abgespeisten Leute werden wieder hungrig, aber die Herrschaft geht weiter.

    Dass mit Herrschaft gebrochen wird, gerade darum geht es dem Messias. Deshalb zieht sich Jesus „wieder auf den Berg zurück, er allein“. Er schreckt davor zurück Herrschaft nach der Weise Roms und anderer Potentaten zu übernehmen. Vielleicht zieht er sich auch auf den Berg als einem Ort der Nähe Gottes zurück. In Joh 12, vor allem in der Geschichte des Einzugs in Jerusalem auf einem Esel (12, 12-18), hören wir davon, dass der Messias ein König ist, „aber eben nicht ein König unter – und nach! - den herrschenden Verhältnissen.”[5] Was Jesu Königtum ausmacht, wird vollends auf der Tafel deutlich, die Pilatus über das Kreuz hängen lässt: „Der König der Juden“ (19,20). Dieses Königtum an der Seite der Erniedrigten und als Opfer der Machtverhältnisse zu verstehen, darauf zielt Johannes in seinem Evangelium. Davon aber sind diejenigen, die ihn zum König machen wollen, noch weit entfernt.

    16 Als es aber Abend geworden war, gingen seine Jünger zum See hinab, 17 bestiegen ein Boot und fuhren über den See, auf Kafarnaum zu. Es war schon dunkel geworden und Jesus war noch nicht zu ihnen gekommen. 18 Da wurde der See durch einen heftigen Sturm aufgewühlt.
    Der Messias hat sich zurückgezogen. Indessen brechen die Jünger*innen nach Kafarnaum auf. Der Weg führt über das Meer. Dies ruft die Motive von Schöpfung und Exodus auf. Der Abend und die Dunkelheit sind Motive, die die Gottesferne, den Krieg und seine Folgen in Erinnerung rufen. Johannes sagt sogar: skotia, Finsternis, war schon. Damit blitzt Gen 1,2 auf, Chaos und Finsternis ist, bevor Gott Leben schafft. Ohne Messias befinden sich die Jünger*innen in einer aussichtslosen Lage. Sie erinnert an jenen „Zustand in dem die Erde war, bevor das erste Wort erklang und das erste Licht erschien. Dieser See ist ihnen zu jenem tehom von Gen 1,2 geworden, einem brodelnden Chaos, aufgepeitscht durch den Sturm.”[6]

    19 Als sie etwa fünfundzwanzig oder dreißig Stadien gefahren waren, sahen sie, wie Jesus über den See kam und sich dem Boot näherte; und sie fürchteten sich. 20 Er aber rief ihnen zu: Ich bin es; fürchtet euch nicht! 21 Sie wollten ihn zu sich in das Boot nehmen, aber schon war das Boot am Ufer, das sie erreichen wollten.
    Die Jünger*innen sind noch nicht in der Mitte des Meeres angekommen, aber schon 5-6 km vom Land entfernt, da sehen sie Jesus, der sich dem Boot nähert. Obwohl Johannes es so darstellt, als könnten sie sehen, dass es Jesus ist, fürchten sie sich. Nicht vor dem Gespenst, phantasma, wie Markus und Matthäus fürchten sie sich. Bei Johannes dürfte die Erfahrung der messianischen Gemeinde, vom Messias verlassen zu sein und ohne ihn ihren Weg gehen zu müssen, entscheidend sein. Er war da, aber an den Verhältnissen hat sich nichts geändert und dennoch sollen sie auf seinen Wegen, also bei ihm bleiben. Das ist zum Fürchten.

    Jesus nähert sich mitten im Chaos dem Boot und gibt sich mit dem Satz zu erkennen, der in Ex 3,14 als Gottesname genannt wird. Das „Ich bin es“ ist jedoch nicht – wie oft, angelehnt an die griechische Philosophie, gedeutet als ‚Ich bin, der ich bin‘ zu verstehen, sondern im Sinne der Geschichte der Befreiung aus Ägypten, in deren Zusammenhang ja Ex 3,14 steht. Demnach ist der Gottesname Ausdruck der Zusage, dass Israels Gott die Schreie der Versklavten hört und seinem Volk auf den Wegen der Befreiung nahe sein will. Was Israels Gott dem Mose in Exodus 3,14 zugesagt hat, gilt auch angesichts der Katastrophe, die Israel unter der Herrschaft Roms zu erleiden hat: Gott wird als Schöpfer und Befreier da sein und das geschieht im Messias. Auch wenn der Messias nicht mehr greifbar ist. Denn noch bevor sie ihn ins Boot nehmen können, erreichen sie schon das andere Ufer. Auch die Nähe eines nicht mehr leibhaftig greifbaren Messias führt ans Ziel. Analog zum Thomas, der zwar aufgefordert, wird die Finger in die Wunden des auferweckten Messias zu legen, es aber nicht tut (20,12ff), vermeidet die Erzählung des Johannes es auch hier, den Messias greifbar ins Boot zu nehmen, ihn gleichsam festzuhalten.

    Das Vermissen des Messias wird nicht einfach in Versicherungen seiner greifbaren Nähe aufgelöst, aber seine Nähe als Hoffnung, dass sie zum Ziel führen wird, zugesagt. Johannes ist sich bewusst, dass die Zeiten stürmisch bleiben werden, an der römischen Herrschaft wird sich absehbar nichts ändern, doch trotz Wind und Wellen gilt es dem Messias die Treue zu halten, um Kurs halten zu können auf das Ziel der Befreiung und Rettung, das immer schon in Zeichen Wirklichkeit werden und zum Durchbruch kommen soll.

    Auch für uns, die wir den vielfältigen Krisenerscheinungen der finalen Krise des Kapitalismus gegenüberstehen, kann die Darstellung des Johannes Kraft und Zuversicht geben. Wir können nicht einfach aussteigen oder das System abschalten, aber wir müssen uns bewusst machen, dass innerhalb des Systems keine Rettung möglich ist. Nur im Bruch oder in Brüchen mit dem System können rettende Perspektiven in den Blick kommen. Diese Sicht ist alles andere als Resignation, sondern Hoffnung, dass im Bruch mit den herrschenden Verhältnissen eine ‚andere Welt möglich‘ werden kann – aber eben auch nur im Bruch damit und nicht in unrealistischen Alternativen, die den rettenden Bruch zu umgehen versuchen.

     

     

    Zusammengestellt von Alexander Just

     


    [1] Ton Veerkamp, Der Abschied des Messias. Eine Auslegung des Johannesevangeliums, I. Teil: Johannes 1,1-10,21, Texte und Kontexte Nr. 109-111, 2006, 108f. [Veerkamp, Abschied]

    [2] Wengst, Klaus, Das Johannesevangelium. 1. Teilband: Kapitel 1-10, Stuttgart 2000 (Theologischer Kommentar zum Neuen Testament Bd. 4), 220. [Wengst, Johannesevangelium]

    [3] Wengst, Johannesevangelium 220.

    [4] Wengst, Johannesevangelium 221.

    [5] Veerkamp, Abschied 112.

    [6] Veerkamp, Abschied 113.

  • Teil 14: Auslegung zu Joh 5,31-47

    Teil 14: Johannes 5,31-47 

     

    Zur Einordnung 

    Unser Textzusammenhang beginnt mit der Heilung eines Gelähmten (5,1-8a). Dass diese Heilung an einem Sabbat geschah, löst einen Konflikt mit den führenden Juden aus, der dazu führte, dass sie Jesus verfolgten (5,8b-16). Jesus verweist darauf, dass sein Wirken in Einheit mit dem Vater geschehe. Das aber führt nicht zur Entspannung der Lage, sondern verschärft sie wie in dem Vorwurf zum Ausdruck kommt, Jesus habe nicht nur den Sabbat gebrochen, sondern sich auch noch Gott gleichgemacht (5,17-18). Darauf antwortet Jesus mit einer Rede, in der er sein Wirken in den Zusammenhang des eschatologischen Wirkens Gottes, d.h. in den Zusammenhang von Auferstehung und Gericht stellt (5,19-30). Damit ist nicht weniger behauptet als dass die Frage des Verhältnisses zum Wirken des Messias Jesus entscheidend ist für die Frage nach Rettung oder Untergang. 

    Dies ist der Hintergrund für die Fortsetzung des Textes in 5,31-47; denn der von Jesus vertretene Anspruch führt zu der Frage, wie er zu begründen bzw. womit er zu legitimieren ist und wer ihn bezeugen kann. 

    31 Wenn ich über mich selbst Zeugnis ablege, ist mein Zeugnis nicht wahr; 32 ein anderer ist es, der über mich Zeugnis ablegt, und ich weiß: Das Zeugnis, das er über mich ablegt, ist wahr. 33 Ihr habt zu Johannes geschickt und er hat für die Wahrheit Zeugnis abgelegt. 34 Ich aber nehme von keinem Menschen ein Zeugnis an, sondern ich sage dies nur, damit ihr gerettet werdet. 35 Jener war die Lampe, die brennt und leuchtet, doch ihr wolltet euch nur eine Zeit lang an ihrem Licht erfreuen. 36 Ich aber habe ein gewichtigeres Zeugnis als das des Johannes: Die Werke, die mein Vater mir übertragen hat, damit ich sie zu Ende führe, diese Werke, die ich vollbringe, legen Zeugnis dafür ab, dass mich der Vater gesandt hat. 37 Auch der Vater selbst, der mich gesandt hat, hat über mich Zeugnis abgelegt. Ihr habt weder seine Stimme je gehört noch seine Gestalt gesehen 38 und auch sein Wort bleibt nicht in euch, weil ihr dem nicht glaubt, den er gesandt hat. 39 Ihr erforscht die Schriften, weil ihr meint, in ihnen das ewige Leben zu haben; gerade sie legen Zeugnis über mich ab. 40 Und doch wollt ihr nicht zu mir kommen, um das Leben zu haben. 41 Ehre von Menschen nehme ich nicht an. 42 Ich habe euch jedoch erkannt, dass ihr die Liebe zu Gott nicht in euch habt. 43 Ich bin im Namen meines Vaters gekommen und ihr nehmt mich nicht an. Wenn aber ein anderer in seinem eigenen Namen kommt, dann werdet ihr ihn annehmen. 44 Wie könnt ihr zum Glauben kommen, wenn ihr eure Ehre voneinander annehmt, nicht aber die Ehre sucht, die von dem einen Gott kommt? 45 Denkt nicht, dass ich euch beim Vater anklagen werde; Mose klagt euch an, auf den ihr eure Hoffnung gesetzt habt. 46 Wenn ihr Mose glauben würdet, müsstet ihr auch mir glauben; denn über mich hat er geschrieben. 47 Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie könnt ihr dann meinen Worten glauben?

     

    In der Jüdischen Tradition ist die Frage der Zeugenschaft klar geregelt. Man kann nicht für sich selbst Zeugnis ablegen. Entsprechend lautet ein Einwand gegen das, was Jesus von sich selbst sagt, an einer anderer Stelle unseres Evangeliums: „Du legst über dich selbst Zeugnis ab; dein Zeugnis ist nicht wahr“ (8,13).Nach der jüdischen Tradition muss es zwei glaubwürdige Zeugen geben, damit ein Zeugnis als wahr anerkannt werden kann. Vor diesem Hintergrund kommt der Täufer Johannes noch einmal in den Blick. Er hat – wie der Evangelist (Joh 1,19-34) erzählt hat – ein Zeugnis über Jesus abgelegt, von dem unser Text noch einmal betont: „Das Zeugnis, das er über mich gab, ist wahr“ (5,33). Dennoch ist das Zeugnis begrenzt. Es kann nicht das legitimieren, was im aktuellen Streit zur Debatte steht: dass Jesu Wirken eins ist mit dem Wirken Gottes. Das würde voraussetzen als Mensch Gott ‚in die Karten geschaut‘ zu haben. Wenn ein Mensch das versuchte, würde er sich an die Stelle Gottes setzen. Trotz seiner Begrenztheit steht das Zeugnis des Johannes im Dienst der Befreiung Israels. Es bezeugt, dass Gott in der Sendung des Messias seinem Volk die Treue hält. Insofern kann er sagen:    

      

    35 Jener war die Lampe, die brennt und leuchtet, doch ihr wolltet euch nur eine Zeit lang an ihrem Licht erfreuen. 

    Das Zeugnis des Johannes hatte keine nachhaltige Wirkung. Er spielt in allen Evangelien eine wichtige Rolle. In den synoptischen Evangelien liegt der Akzent seines Wirkens auf seinem Ruf zur Umkehr, um dem Messias den Weg zu bereiten. Mit dem Messias Jesus ist ein Weg eingeschlagen, der – wie in an seinem Kreuz und an seiner Auferweckung deutlich wird  – zum Bruch mit den herrschenden Verhältnissen und darin zur Hoffnung– wie Johannes es formuliert auf ‚ewiges Leben‘ als einer neuen Welt führt, die Horizonte für ein messianisches Leben in den Gemeinden eröffnete. Obwohl Johannes ‚nur‘ auf den Messias verweist, ohne den Ruf zur Umkehr mit dem Bruch mit den Verhältnissen zu verbinden, wollten Jesu Gegner – so der Vorwurf – sich „nur eine Zeit lang“ an dem Licht der Lampe erfreuen, die mit Johannes zum Brennen und Leuchten gekommen war. 

     

    36 Ich aber habe ein gewichtigeres Zeugnis als das des Johannes: Die Werke, die mein Vater mir übertragen hat, damit ich sie zu Ende führe, diese Werke, die ich vollbringe, legen Zeugnis dafür ab, dass mich der Vater gesandt hat. 

    Jesus verweist auf ein Zeugnis, das über das hinausgeht, was Johannes bezeugt hatte: die ihm vom Vater übertragenen Werke. Sie legen „Zeugnis dafür ab, dass mich der Vater gesandt hat“ (V. 36). Diese Werke implizieren Auferstehung und Gericht, die Auferweckung des Gekreuzigten Messias und die Auferweckung der Toten als Maßstab (Gericht), an dem alles gemessen wird. Diese Werke kommen bereits in der Heilung des Gelähmten zum Ausdruck. Daher steht sie nicht gegen den Sabbat, sondern bezeugt den Inhalt, um den es mit dem Sabbat geht: die Vollendung der Schöpfung (Gen 2,1f). Sie ist der Brennpunkt all der Werke, die „mein Vater mir übergeben hat, damit ich sie zu Ende führe“ V. 36). Zu diesen Werken gehört die Heilung des unter der Herrschaft Roms gelähmten Israel, damit es im Vertrauen auf die Werke des Messias wieder neu Wege der Befreiung hin auf das Ziel der Vollendung der Schöpfung gehen kann. 

    Zu diesem Zeugnis in den Werken Gottes und seines Messias kommt ein zweites hinzu: 

       

    37 Auch der Vater selbst, der mich gesandt hat, hat über mich Zeugnis abgelegt. 

    Ihr habt weder seine Stimme je gehört noch seine Gestalt gesehen 38 und auch sein Wort bleibt nicht in euch, weil ihr dem nicht glaubt, den er gesandt hat. 

    Das zweite Zeugnis ist das der Schrift. Aber auch dieses Zeugnis – so der Vorwurf weiter – habt ihr nicht gehört. Die Formulierung: „Ihr habt weder seine Stimme je gehört noch seine Gestalt gesehen“ (V. 37) greift auf Dtn 4,12 zurück. Kurz vor seinem Tod erinnert Mose das Volk daran wie Gott zu ihm gesprochen hat: „Der HERR sprach zu euch mitten aus dem Feuer. Eine Stimme, Worte habt ihr gehört, eine Gestalt habt ihr nicht gesehen, nur Donnerstimme war da.” Diesen Vers wendet Jesus gegen seine Gegner. So wenig wie sie Gott gesehen haben so wenig haben sie seine Stimme gehört, die doch zu hören war. Sie hätten Gottes Stimme in seinem Messias hören können und damit die Wirksamkeit seines Wortes in seinen Werken erkennen und Wege der Befreiung gehen können. 

     

    39 Ihr erforscht die Schriften, weil ihr meint, in ihnen das ewige Leben zu haben; gerade sie legen Zeugnis über mich ab. 40 Und doch wollt ihr nicht zu mir kommen, um das Leben zu haben. 

    Neben den Werken ist auch die Schrift ein Zeugnis für den Messias. Das hätten sie erkennen können, wo sie doch die Schriften erforschen, um in ihnen „das ewige Leben“, das Leben einer befreiten Welt, „zu haben“ (V. 39).  Für Johannes gilt: Wer auf Mose vertraut, kommt zum Glauben an den Messias Jesus. Natürlich ist die Erkenntnis Jesu aus den Schriften alles andere als zwingend. Es gibt gute jüdische Gründe, die Schriften so nicht zu lesen und gute ‚christliche‘ Gründe Johannes in dieser Absolutheit nicht zu folgen. Zu verstehen ist jedoch, worauf Johannes hinaus will: die Befreiung Israels hängt an dem Bruch mit Rom, den der Messias verkörpert. Daher läuft sein Vorwurf darauf hinaus zu sagen: Ihr verratet die Befreiung, weil ihr keinen Bruch mit Rom wagt. Ihr wollt zwar ewiges Leben, aber ihr sucht es ohne den Bruch, der mit dem Messias verbunden ist und so kommt ihr nicht zur Befreiung Israels.  

     

    41 Ehre von Menschen nehme ich nicht an. 42 Ich habe euch jedoch erkannt, dass ihr die Liebe zu Gott nicht in euch habt. 43 Ich bin im Namen meines Vaters gekommen und ihr nehmt mich nicht an. Wenn aber ein anderer in seinem eigenen Namen kommt, dann werdet ihr ihn annehmen. 

    Der Bruch kommt auch darin zum Ausdruck, dass Jesus keine Ehre von Menschen annimmt. Dem entspricht, dass er „von keinem Menschen ein Zeugnis“ annimmt (V. 34). Er gibt allein Gott die Ehre und nimmt allein von ihm ein Zeugnis an. Aus dieser Perspektive erkennt er, „dass ihr die Liebe Gottes nicht in euch habt“ (V. 42). Nach Dtn 6,5 soll Israel den Herrn, seinen Gott „lieben mit ganzem Herzen mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft“. Israel soll mit Gott solidarisch sein, der mit seinem Volk solidarisch ist und ihm die Treue hält. Genau darum geht es Johannes in seinem Verständnis des Messias Jesus. Genau das aber impliziert den Bruch mit der „Ehre“ von Menschen, mit der „Ehre“ und den Ehrungen, die das römische Imperium denen verspricht, die ihm ‚die Ehre geben‘. Daher die Versuchung, einen anderen, der „in seinem eigenen Namen kommt“ (V. 43) anzunehmen. 

     

    44 Wie könnt ihr zum Glauben kommen, wenn ihr eure Ehre voneinander annehmt, nicht aber die Ehre sucht, die von dem einen Gott kommt? 

    Wie konfliktreich die Frage der Ehre ist macht ein Blick auf 12,42f deutlich. Im Rückblick auf Jesu Wirken und im Vorgriff auf die Passion reflektiert Johannes noch einmal auf die Rolle von „führenden Männern“. Unter ihnen gab es solche, die mit Jesus sympathisierten, aber nicht offen, weil sie fürchteten, „aus der Synagoge ausgestoßen zu werden“ (12,42). Hier artikuliert sich der zentrale Konflikt vor dem die Anhänger des Messias Jesus stehen. Sie riskieren aus der Synagoge ausgestoßen zu werden, weil die Leitung der Synagoge nach dem Krieg der Römer gegen die Juden neuen Konflikte mit Rom vermeiden wollen, die messianische Bewegung aber für den Bruch mit Rom steht. Vor diesem Hintergrund ist dann auch der Vorwurf zu verstehen, sie nähmen „Ehre voneinander“ an, suchten aber nicht „die Ehre … die von dem einen Gott kommt“ (V. 44). Einander geben sie sich in ihrer Loyalität gegenüber Rom die Ehre. Damit aber verweigern sie Gott und seinem Messias die Ehre, die ihnen allein gebührt. 

     45 Denkt nicht, dass ich euch beim Vater anklagen werde; Mose klagt euch an, auf den ihr eure Hoffnung gesetzt habt. 46 Wenn ihr Mose glauben würdet, müsstet ihr auch mir glauben; denn über mich hat er geschrieben. 47 Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie könnt ihr dann meinen Worten glauben? 

    Indem Jesu Rede noch einmal zu den Schriften zurückkehrt, stellt er seine Verwurzelung in Israel noch einmal heraus. Für Johannes liegt das Problem darin, dass seine jüdischen Zeitgenossen nicht bereit sind, die Schrift so zu lesen, dass die Befreiung die darin verheißen ist, zu dem Bruch führt, der mit dem Messias Jesus, seinem Wirken, seinem Kreuz und seiner Auferweckung verbunden ist. Weil sie nicht davon lassen können, Rom und darin sich untereinander die Ehre zu geben, glauben sie den Schriften nicht und können auch nicht den Worten des Messias glauben. Denn ein gelebter Glaube aus der Schrift führt in die Solidarität mit Gott und so an die Seite der Schwachen und Ausgegrenzten und so an die Seite der Opfer von Herrschaft und zum Bruch mit ihr. Das wäre – so Johannes – von Mose zu lernen und das genau das drückt sich in Leben und Wirken des Messias Jesu aus. 

  • Teil 13: Auslegung zu Joh 5,17-30

    Teil 13, Johannes 5,17-30

     

    5, 17 Jesus aber entgegnete ihnen: Mein Vater wirkt bis jetzt und auch ich wirke. 18 Darum suchten die Juden noch mehr, ihn zu töten, weil er nicht nur den Sabbat brach, sondern auch Gott seinen Vater nannte und sich damit Gott gleichmachte. 19 Jesus aber sagte zu ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Der Sohn kann nichts von sich aus tun, sondern nur, wenn er den Vater etwas tun sieht. Was nämlich der Vater tut, das tut in gleicher Weise der Sohn. 20 Denn der Vater liebt den Sohn und zeigt ihm alles, was er tut, und noch größere Werke wird er ihm zeigen, sodass ihr staunen werdet. 21 Denn wie der Vater die Toten auferweckt und lebendig macht, so macht auch der Sohn lebendig, wen er will. 22 Auch richtet der Vater niemanden, sondern er hat das Gericht ganz dem Sohn übertragen, 23 damit alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren. Wer den Sohn nicht ehrt, ehrt auch den Vater nicht, der ihn gesandt hat. 24 Amen, amen, ich sage euch: Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, hat das ewige Leben; er kommt nicht ins Gericht, sondern ist aus dem Tod ins Leben hinübergegangen. 25 Amen, amen, ich sage euch: Die Stunde kommt und sie ist schon da, in der die Toten die Stimme des Sohnes Gottes hören werden; und alle, die sie hören, werden leben. 26 Denn wie der Vater das Leben in sich hat, so hat er auch dem Sohn gegeben, das Leben in sich zu haben. 27 Und er hat ihm Vollmacht gegeben, Gericht zu halten, weil er der Menschensohn ist. 28 Wundert euch nicht darüber! Die Stunde kommt, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören 29 und herauskommen werden: Die das Gute getan haben, werden zum Leben auferstehen, die das Böse getan haben, werden zum Gericht auferstehen. 30 Von mir selbst aus kann ich nichts tun; ich richte, wie ich es vom Vater höre, und mein Gericht ist gerecht, weil ich nicht meinen Willen suche, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.

     

    Im ersten Teil des 5. Kapitels beschreibt Johannes wie Jesus einen gelähmten heilt.

    In diesem Kapitel deutet Jesus die Heilung des Gelähmten am Sabbat.

     

    17 Jesus aber entgegnete ihnen: Mein Vater wirkt bis jetzt und auch ich wirke. 18 Darum suchten die Juden noch mehr, ihn zu töten, weil er nicht nur den Sabbat brach, sondern auch Gott seinen Vater nannte und sich damit Gott gleichmachte.

    Diese Heilung steht für die Heilung des unter der Herrschaft Roms ‚gelähmten‘ Israel. Es ist unfähig, sich als von Gott befreites Volk zu bewegen. Die ‚führenden Kreise‘ scheuen diese Heilung, denn sie fürchten verschärfte Repression durch Rom bis hin zur drohenden Vernichtung Israels wie der Krieg Roms gegen die Aufstände der Zeloten gezeigt hatte. Deshalb erscheint es ihnen klüger, dass Israel sich nicht bewegt, sondern in seiner Verirrung unter der Herrschaft verharrt. Es soll eben nicht – wie der Gelähmte nach seiner Heilung – aufstehen und nicht mehr sündigen, d.h. in Verirrung geraten, damit ihm „nicht noch Schlimmeres“ als die Lähmung „zustößt“ (V. 14).

    Dass das gelähmte Israel aufstehen und sich befreit bewegen könnte, ist das ‚Anstößige‘ an Jesu Heilung des Gelähmten und der Grund Jesus zu verfolgen. Dass sie am Sabbat geschieht und Jesus genau das mit dem Hinweis darauf rechtfertigt, dass er im Einklang mit Israels Gott, seinem Vater, gehandelt habe, scheint den führenden Kreisen auch eine formale gesetzliche Grundlage zu geben, gegen Jesus vorzugehen.

    Jesus tritt dem Vorwurf der Selbstanmaßung entgegen. Er macht deutlich: Sein Wirken kommt nicht aus ihm selbst, sondern von Gott. Der Sohn tut das, ‚was er den Vater machen sieht‘.

    Im Blick auf den Sabbat heißt das: Gott wirkt auch am Sabbat. So tut es auch der Sohn. Wenn Gott aufhörte zu wirken, bräche die Welt zusammen. Gottes schöpferische Kraft wirkt also nicht nur am Anfang der Schöpfung, sondern ist auch darin schöpferisch, dass sie die Schöpfung am Leben erhält und zur Vollendung führt. Jesus legitimiert sich damit, dass sein Handeln eins ist mit dem Wirken des Vaters. Dies wird in den folgenden Versen exemplifiziert.

     

    19 Jesus aber sagte zu ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Der Sohn kann nichts von sich aus tun, sondern nur, wenn er den Vater etwas tun sieht. Was nämlich der Vater tut, das tut in gleicher Weise der Sohn. 20 Denn der Vater liebt den Sohn und zeigt ihm alles, was er tut, und noch größere Werke wird er ihm zeigen, sodass ihr staunen werdet.

    Den Messias als Sohn des Vaters und darin als eins mit dem Vater (vgl. 10,30) zu sehen, ist ein Grundzug des Evangeliums nach Johannes. Im Hintergrund steht die patriarchale Tradition, die den Sohn den Lebensweg des Vaters gehen lässt. Der Vater Jesu ist kein anderer als Israels Gott als Schöpfer und Befreier. Sein Weg geht der Messias als Sohn dieses Vaters. Auffällig ist, dass von Vers 20, wo davon die Rede ist, dass der Vater den Sohn liebt, Johannes nicht das Wort agapan oder agapä, was Solidarität zum Ausdruck bringt, benutzt, sondern von Lieben als fileo, also als von Lieben als einer freundschaftlichen Beziehung spricht. Analog dazu nennt Jesus die JüngerInnen seine „Freunde“ (15,9ff). Dabei unterscheidet er die freundschaftliche Beziehung von einer Herr-Knechts-Beziehung, die durch Über- und Unterordnung bestimmt ist. Während der Knecht nicht weiß, „was sein Herr tut“, ist Jesu Freundschaft mit den JüngerInnen davon geprägt, dass er sagen kann: „Ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe“ (15,15).

    In der Beziehung der Freundschaft statt der zu einem Untertan heißt es an unserer Stelle: „Der Vater“ zeigt dem Sohn „alles was er tut, und noch größere Werke wird er ihm zeigen“. Was gemeint ist wird im folgenden Vers deutlich:

     

    21 Denn wie der Vater die Toten auferweckt und lebendig macht, so macht auch der Sohn lebendig, wen er will.

    Israels Gott hat seinem Messias das Werk der Schöpfung gezeigt und er wird ihm zeigen, wie er auch in der Auferweckung der Toten wirkt. Er hat das im Exil tote Israel lebendig gemacht (Ez 37). So wird er auch den am Kreuz der Römer hingerichteten Sohn lebendig machen. Darin kann Israel neu auf(er)stehen und Wege der Befreiung gehen – bis die Schöpfung in der Auferweckung aller Toten zur Vollendung kommt.

    Wie Gott aus Lähmung befreit, Tote auferweckt, so „macht auch der Sohn lebendig, wen er will“. „Der Vater macht darin lebendig, dass der Sohn lebendig macht“[1], so formuliert es Klaus Wengst. Das ‚wen er will‘, „ruft jene Vollmacht auf, die der Vater, der ‚fortgeschrittene an Tagen‘ aus der Danielvision, dem Sohn gegeben hat. Die er will ist also keine Willkür, sondern ist Resultat jenes Gerichtsverfahrens, das Daniel beschreibt.“[2]  

    Daher ist es kein Zufall, sondern konsequent, dass die Auferweckung der Toten mit der Vorstellung des Gerichts verbunden ist. Mit der Auferweckung der Toten sind Unrecht und Gewalt überwunden, sie sind ‚gerichtet‘ in einer Welt, die ganz ausgerichtet ist auf ein Leben der Befreiten jenseits von tödlicher Herrschaft.

     

    22 Auch richtet der Vater niemanden, sondern er hat das Gericht ganz dem Sohn übertragen, 23 damit alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren. Wer den Sohn nicht ehrt, ehrt auch den Vater nicht, der ihn gesandt hat.

    Auch das Gericht hat der Vater dem Sohn übergeben. Das ist nur konsequent; denn die Solidarität des Sohnes ist der Maßstab, an dem alles gemessen wird. In der Praxis der Solidarität bzw. ihrer Verweigerung geschieht bereits das Gericht. Vor diesem Hintergrund heißt es im Ersten Johannesbrief: „Wir wissen, dass wir vom Tod zum Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben“ (1 Joh 3,14). Weil an dieser Stelle für ‚lieben‘ das griechische Wort ‚agapaoo‘ steht, müssten wir sagen: „weil wir solidarischunseren Brüdern“ bzw. Geschwistern sind. So heißt es auch in Vers 24: Wer Gottes Wort hört und dem Messias Jesus vertraut, „ist aus dem Tod ins Leben hinüber gegangen“.

    Die Solidarität zwischen den Geschwistern wiederum ist eingebunden in die gegenseitige Solidarität von Vater und Sohn. Sie zeigt sich darin, dass der Sohn in seinem Wirken ‚eins‘ ist mit dem Vater und der Vater dem Sohn die Treue hält und sein Leben der Solidarität auch angesichts der Vernichtung durch Rom rettet. Darin richtet er den Sohn und Rom. Er gibt dem Sohn Recht und setzt Rom ins Unrecht.Der Maßstab für das Gericht ist der Menschensohn, da er in der Solidarität mit dem Vater lebt. So zeigt sich in seinem Leben und Wirken, was Gottes Solidarität beinhaltet.

    Auch in der „Ehre“ sind Vater und Sohn miteinander verbunden. Den Sohn zu ehren heißt Gott zu ehren. Was dies vor allem im Blick auf den Zusammenhang zwischen Ehre und Gericht bedeutet, wird von Dan 7,14 her deutlich. Hier werden dem Menschensohn, der aus der Sphäre Gottes, aus dem Himmel, den Bestien der Herrschaft entgegentritt, „Herrschaft, Würde und Königtum gegeben“. Mit Würde wird das griechische Wort timä, das für Ehrung steht, übersetzt. Er steht in der Nähe von doxa, Verherrlichung, von der in unserem Evangelium immer wieder im Blick auf den Vater wie den Sohn die Rede ist. In seiner richterlichen Macht, zeigt sich die Ehre des Sohnes wie auch die des Vaters, der sie ihm übergeben hat. Deshalb sind Vater und Sohn zugleich zu ‚ehren‘.

    Problematisch ist die negative Fortsetzung: Wer den Sohn nicht ehrt, ehrt auch den Vater nicht, der ihn gesandt hat. Man kann den Satz aber auch nicht exklusiv verstehen: „Wer den Sohn nicht ehrt, ehrt den Vater nicht als Vater dieses Sohnes, nimmt ihn nicht wahr als den, der diesen Sohn geschickt hat. Damit wäre nicht behauptet, dass er den Vater überhaupt nicht ehrt – ist doch auch im Johannesevangelium ‚der Vater‘ von vornherein als Gott Israels, als der in Israel bekannte Gott vorausgesetzt.“[3]

    Ein nicht-exklusives Verständnis des Satzes würde also bedeuten: Wer den Sohn ehrt, kann ihn nur als Sohn des Gottes Israels ehren. Während auch diejenigen, die als Juden nicht an den Messias glauben, den Gott ihres Volkes ehren, aber „nicht als Vater dieses Sohnes“. Letzteres darf nicht ausgeschlossen werden. Im Gegenteil, es müssen die beiden Wege als Wege der Befreiung betont werden, den jüdischen Weg ohne den Messias Jesus wie auch den Weg mit dem Messias Jesus, der aber nicht anders verstanden werden darf als Messias aus Israel, als Sohn des Vaters.

     

    24 Amen, amen, ich sage euch: Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, hat das ewige Leben; er kommt nicht ins Gericht, sondern ist aus dem Tod ins Leben hinübergegangen.

    In diesem Vers wird noch einmal ausdrücklich ausgesprochen, was es heißt, dass „das Gericht ganz dem Sohn übertragen“ (V. 22) wurde. Wer Jesu Wort hört, hört Gottes Wort, das aufrichtet und lebendig macht. Er bewegt sich bereits im „ewigen Leben“, d.h. im Leben der Welt, die mit dem Messias Jesus zum Durchbruch kommt, eine Welt ‚jenseits‘ von Unrecht und Gewalt. Daher kommt er nicht mehr ins Gericht, sondern ist schon ‚gerichtet‘, d.h. ausgerichtet auf jene Welt der Befreiung, die für alle Wirklichkeit werden soll.

     

    25 Amen, amen, ich sage euch: Die Stunde kommt und sie ist schon da, in der die Toten die Stimme des Sohnes Gottes hören werden; und alle, die sie hören, werden leben.

    „Tote“ sind diejenigen, die tot sind, obwohl sie physisch noch leben. Tot ist Israel unter der Herrschaft Roms. Es soll in seinem Grab die aufrichtende und auf(er)weckende Stimme des Sohnes hören, wie sie Lazarus gehört hat, den Jesus aus seinem Grab heraus gerufen hatte (11,43), damit er von seinen „Binden“ befreit werden konnte (11,44). Diese Stunde ist schon da, das soll von allen gehört werden, damit sie aufstehen können.

     

    26 Denn wie der Vater das Leben in sich hat, so hat er auch dem Sohn gegeben, das Leben in sich zu haben. 27 Und er hat ihm Vollmacht gegeben, Gericht zu halten, weil er der Menschensohn ist.

    Bei der Formulierung „das Leben in sich haben“ mögen manche an ontologische Qualitäten denken. Solches ‚Denken‘ ist Johannes fremd. Er denkt jüdisch: Die ganze Macht des Lebens, die in Israels Gott wirksam wird, wirkt auch im Sohn. Sie zeigt sich vor allem in seiner „Vollmacht … Gericht zu halten“. Dies tut er nach Daniel 7,14ff als Menschensohn. Seine Aufgabe ist es, bestialischer Herrschaft entgegen zu treten (7,1ff), sie zu richten und die Welt auf Befreiung ‚auszurichten‘. Genau darin zeigt sich Jesu Sendung, sein ‚Eins-sein‘ mit Israels Gott und das Leben, das ‚in ihm steckt‘.

     

    28 Wundert euch nicht darüber! Die Stunde kommt, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören 29 und herauskommen werden: Die das Gute getan haben, werden zum Leben auferstehen, die das Böse getan haben, werden zum Gericht auferstehen.

    In diesem Vers wird wieder Daniel aufgegriffen. Es geht sowohl darum, die schon im Leben Toten aus ihren Gräbern zu holen, also die Welt auf Befreiung von tödlicher Herrschaft auszurichten, aber auch darum, dass denen Gerechtigkeit widerfährt, deren Leben unter Unrecht und Gewalt ausgelöscht wurde, vor allem denjenigen, die sich für Solidarität und Gerechtigkeit eingesetzt haben. Die Gewalttäter bzw. die Strukturen von Unrecht und Gewalt sollen nicht das letzte Wort haben. Vor diesem Hintergrund heißt es in Dan 12,2: Die einen werden erwachen „zum ewigen Leben, die anderen zur Schmach, zu ewigem Abscheu“. Daraus ‚Hölle‘ und ‚ewige Verdammnis‘ abzuleiten wäre verfehlt. Es geht darum, dass es zum Bruch mit Unrechts- und Gewaltverhältnissen kommt, wer auch noch im letzten Gericht daran festhält, sich also nicht ausrichten lassen will auf ein Leben für alle Menschengeschwister, schließt sich selbst vom Leben dieser kommenden Welt aus.

     

    30 Von mir selbst aus kann ich nichts tun; ich richte, wie ich es vom Vater höre, und mein Gericht ist gerecht, weil ich nicht meinen Willen suche, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.

    Was der Messias tut, ist Frucht von Israels Tradition der Befreiung. Darin ist das Wort des Vaters als Israels Gott hörbar und wirksam. Es richtet aus auf Befreiung und ein Leben als Befreite. Darin besteht die Gerechtigkeit des Gerichts; darin steckt der Wille dessen, der seinen Messias gesandt hat, die Welt neu auszurichten.

     

     

     

    Zusammengestellt von

    Alexander Just

     


    [1] Wengst, Klaus, Das Johannesevangelium. 1. Teilband: Kapitel 1-10, Stuttgart 2000 (Theologischer Kommentar zum Neuen Testament Bd. 4), 198 [Wengst, Johannesevangelium].

    [2] Ton Veerkamp, Der Abschied des Messias. Eine Auslegung des Johannesevangeliums, I. Teil: Johannes 1,1-10,21, Texte und Kontexte Nr. 109-111, 2006, 96. [Veerkamp, Abschied]

    [3] Wengst, Johannesevangelium 199.

  • Teil 12: Auslegung zu Joh 5,1-18

    Teil 12, Joh 5,1-18

     

    „Danach war ein Fest der Juden...“ (5,1)

    Mit dieser Formulierung schließt Johannes etwas abrupt an die Erzählung von der Heilung des Sohnes des königlichen Beamten (4,46-54) an. Den neuen Erzählfaden, den Johannes damit einleitet, bilden Feste der Juden:

     

    - ein nicht näher bestimmtes Fest (5,1-48),

    - die Nähe des Paschafestes, zu dessen Anlass Johannes von der Brotvermehrung erzählt, an die er eine deutende Rede Jesu anschließt (6,1-71).

    - das Laubhüttenfest, an dem ein heftiger Streit zwischen Jesus und den führenden Juden um die Frage nach seiner Messianität ausgefochten wird (7,1-10,21), und

    - das Fest der Tempelweihe, in dessen Zusammenhang Johannes von der Auferweckung des Lazarus erzählt und der Konflikt zwischen Jesus und den führenden Juden auf Jesu Hinrichtung am Kreuz der Römer zu eskalieren beginnt.

     

    In den Konflikten, die sich um die Feste ranken, wird um die Frage gestritten, ob Jesus der Messias sein kann. Aus der Sicht des Johannes weigern sich die führenden Juden Jesus als Messias für Israel anzuerkennen. Doch lassen wir Johannes selbst zu Wort kommen:

     

    5,1 Danach war ein Fest der Juden und Jesus ging hinauf nach Jerusalem. 2 In Jerusalem gibt es beim Schaftor einen Teich, zu dem fünf Säulenhallen gehören; dieser Teich heißt auf Hebräisch Betesda. 3-4 In diesen Hallen lagen viele Kranke, darunter Blinde, Lahme und Verkrüppelte. 5 Dort lag auch ein Mann, der schon achtunddreißig Jahre krank war. 6 Als Jesus ihn dort liegen sah und erkannte, dass er schon lange krank war, fragte er ihn: Willst du gesund werden? 7 Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich, sobald das Wasser aufwallt, in den Teich trägt. Während ich mich hinschleppe, steigt schon ein anderer vor mir hinein. 8 Da sagte Jesus zu ihm: Steh auf, nimm deine Liege und geh! 9 Sofort wurde der Mann gesund, nahm seine Liege und ging. Dieser Tag war aber ein Sabbat. 10 Da sagten die Juden zu dem Geheilten: Es ist Sabbat, du darfst deine Liege nicht tragen. 11 Er erwiderte ihnen: Der mich gesund gemacht hat, sagte zu mir: Nimm deine Liege und geh! 12 Sie fragten ihn: Wer ist denn der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm deine Liege und geh? 13 Der Geheilte wusste aber nicht, wer es war. Jesus war nämlich weggegangen, weil dort eine große Menschenmenge zugegen war. 14 Danach traf ihn Jesus im Tempel und sagte zu ihm: Sieh, du bist gesund geworden; sündige nicht mehr, damit dir nicht noch Schlimmeres zustößt! 15 Der Mann ging fort und teilte den Juden mit, dass es Jesus war, der ihn gesund gemacht hatte. 16 Daraufhin verfolgten die Juden Jesus, weil er das an einem Sabbat getan hatte. 17 Jesus aber entgegnete ihnen: Mein Vater wirkt bis jetzt und auch ich wirke. 18 Darum suchten die Juden noch mehr, ihn zu töten, weil er nicht nur den Sabbat brach, sondern auch Gott seinen Vater nannte und sich damit Gott gleichmachte.

     

    Danach war ein Fest der Juden und Jesus ging hinauf nach Jerusalem. (5,1)

    Im Unterschied zu den anderen Festen, von denen Johannes erzählt, dass Jesus nach Jerusalem hinaufzieht, bleibt dieses Fest unbestimmt. Wir können jedoch davon ausgehen, dass es sich um ein Wallfahrtsfest handelt, an dem Juden nach Jerusalem hinauf ziehen. Für die folgende Erzählung von der Heilung eines Gelähmten und die sich daran entzündenden Auseinandersetzung ist entscheidend, dass dieses Fest an einem Sabbat stattfindet.

    Er ist – wie generell die Feste – dadurch charakterisiert, dass er eine Unterbrechung im Ablauf der Zeit darstellt. An den normalen Tagen – im Lateinischen und in der Liturgie werden sie ‚dies feriae‘, wilde bzw. freie Tage im Ablauf der Zeit genannt – gehen Menschen ihren unterschiedlichen Tätigkeiten nach. Diese Abläufe sind durch ‚feste Zeiten‘, also durch Feste unterbrochen. Die Unterbrechung erinnert daran, dass Gott am siebten Tag, dem Sabbat, ruhte und ihn dadurch heiligte (Gen 2,1ff). Zugleich heißt es „Am siebten Tag vollendete Gott das Werk, das er gemacht hatte.“ Kann aber eine Schöpfung schon ‚vollendet‘ sein, in der es Arme und Kranke, Krüppel und Gelähmte gibt? In welcher Beziehung stehen ‚Ruhe‘ und ‚Vollendung‘? Darüber wird nach der Heilung des Gelähmten am Sabbat gestritten werden.

     

    In Jerusalem gibt es beim Schaftor einen Teich, zu dem fünf Säulenhallen gehören; dieser Teich heißt auf Hebräisch Betesda. (5,2)

    Der Teich „ist ein Tauchbad am alten Schafstor“, das nach Nehemia 3 „vor mehr als 450 Jahren errichtet wurde“[1]. Die fünf Säulenhallen könntenfür die fünf Bücher der Tora stehen. „Der Legende nach sollte ein himmlischer Bote das Wasser verwirbeln und der erste Kranke, der dann ins Wasser geht, sollte geheilt werden.“[2]

    Warum Johannes den Hinweis auf den hebräischen Namen Betesda, das man mit Haus der Barmherzigkeit übersetzen kann, eingefügt hat, ist nicht eindeutig zu klären. Vielleicht um zu unterstreichen, was nun geschieht.

     

    In diesen Hallen lagen viele Kranke, darunter Blinde, Lahme und Verkrüppelte. 5 Dort lag auch ein Mann, der schon achtunddreißig Jahre krank war. (5,3-5)

    In den Säulenhallen lagen viele dauerhaft Kranke, denen kein Arzt helfen konnte, die sich daher Heilung durch das Bad erhofften. Die Szenerie erinnert an Jes 35,5f, wo es heißt:

    „Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben werden geöffnet. Dann springt der Lahme wie ein Hirsch und die Zunge des Stummen frohlockt...“

    Das Lied, aus dem diese Verse zitiert sind, besingt die Befreiung Israels aus Fremdherrschaft. Gott kommt seinem Volk als Befreier und Retter entgegen. Dann wird Israel aufgerichtet. Die „schlaffen Hände“ werden gestärkt und die „wankenden Knie“ gefestigt (35,3). Zu den „Verzagten“ wird gesagt: „Seid stark, fürchtet euch nicht!“ (35,4). Wenn im Umfeld Jesu bzw. der messianischen Gemeinden Menschen die Augen aufgingen, die Ohren sich der Botschaft vom Reich Gottes öffneten, Verstummte begannen zu reden und Gelähmte aus ihrer Lähmung befreit wurden, wurde dies als Anfang der messianischen Zeit und Jesus als Messias interpretiert.

    Aus der Menge der Krankenwird nun ein Mann herausgegriffen, der schon achtunddreißig Jahre krank war. Die Zahl 38 taucht im ersten Testament nur einmal auf und zwar in Dtn 2,14. Mose hatte Kundschafter ausgeschickt, um das Land in Augenschein zu nehmen. „Nach ihrer Rückkehr rieten sie dem Volk, dorthin nicht weiterzugehen, weil die Verhältnisse im Land einen Einzug und ein Leben nach der Tora dort nicht erlauben würden: ‚Riesen haben wir dort gesehen‘, (Dtn 1,28). Das ganze Projekt sei von Anfang an faul gewesen so die Kundschafter: ‚Aus Haß hat der NAME uns weggeführt aus dem Land Ägypten, um uns in die Hand des Amoriters zu geben und uns zu vernichten.‘

    „Die Folge: Niederlage und Stagnation im wahrsten Sinne des Wortes, achtunddreizig Jahre lang wird sich Israel im Kreise drehen. Dann kommt die Wende“[3]. In Dtn 2,1-13 heißt es:

     

    „Dann wendeten wir uns der Wüste zu, brachen auf und nahmen den Weg zum Roten Meer, wie es der HERR mir befohlen hatte. Wir zogen lange Zeit am Gebirge Seïr entlang. Dann sagte der HERR zu mir: Ihr seid jetzt lange genug an diesem Gebirge entlanggezogen. Wendet euch jetzt nach Norden!“ (Dtn 2,1-3)

    „Und jetzt steht auf und überquert das Tal des Sered! Da überquerten wir das Tal des Sered. Die Zeit, die wir von Kadesch-Barnea an gewandert waren, bis wir das Tal des Sered überquerten, betrug achtunddreißig Jahre. So lange dauerte es, bis die Generation der waffenfähigen Männer vollständig ausgestorben war, sodass sich keiner von ihnen mehr im Lager befand, wie es ihnen der HERR geschworen hatte.“ (Dtn 2,13f)

     

    Israel war vom Anblick der Riesen gelähmt. Die Hindernisse, die nach dem Übergang über den Jordan zu überwinden waren, schienen ‚riesig‘. Sie waren so übermächtig, dass Israel sich nicht vorstellen konnten, im Land der ‚Riesen‘ als von Gott befreites Volk zu leben. Damit aber wäre die Befreiung aus Ägypten gescheitert und die Verheißung von Israels Gott verraten. Diese Situation lähmte und lies Israel perspektivlos um sich selbst kreisen und in die Irre gehen. Sie wird durch ein Wort Gottes unterbrochen, dessen Kern die Aufforderung ist: „Und jetzt steht auf...“ (Dtn 2,13).

     

    Mit dem Hinweis auf die 38jährige Lähmung des Mannes stellt Johannes eine Beziehung her zwischen der Lähmung, unter der Israel zurzeit der Römer, vor allem nach der Zerstörung Jerusalems zu leiden hatte. Unter diesen Verhältnissen schien es aussichtslos, als befreites Volk nach den Weisungen der Tora zu leben. Israel war ‚gelähmt‘. Unter der Herrschaft Roms konnte es nur in die Irre gehen, d.h. Gottes Wege und Weisungen zur Befreiung verfehlen. Es brauchte eine Initiative, mit der die Lähmung sich lösen konnte. Einer wie damals Mose… Johannes sieht denjenigen, der von Gott gesandt ist, um Israels Lähmung unter der Herrschaft Roms zu lösen, in dem Messias Jesus.

     

    Als Jesus ihn dort liegen sah und erkannte, dass er schon lange krank war, fragte er ihn: Willst du gesund werden? Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich, sobald das Wasser aufwallt, in den Teich trägt. Während ich mich hinschleppe, steigt schon ein anderer vor mir hinein. (5,6f)

    Jesus erkennt die Situation des Kranken. Er ist gelähmt und dazu noch ohne Hilfe. Aus eigener Kraft kommt er nicht auf die Beine. Den rettenden Teich kann er nicht als erster erreichen. Jesus lässt sich von ihm und seiner aussichtslosen Lage berühren. Er hört seinen stummen Schrei. Jesu Frage ermutigt den Kranken, seine aussichtslose Lage in Worte zu fassen.

     

    Da sagte Jesus zu ihm: Steh auf, nimm deine Liege und geh! Sofort wurde der Mann gesund, nahm seine Liege und ging. Dieser Tag war aber ein Sabbat. (5,8f)

    Vor dem Hintergrund der 38jährigen Lähmung ist die Heilung des Gelähmten transparent für die Heilung Israels durch den Messias. Der Messias richtet Israel auf, so dass es aufstehen, seine Liege in die Hand nehmen und gehen kann. Die Zeit des Daniederliegens ist vorbei. Israel hat wieder festen Boden unter den Füssen, so dass es gehen kann. Das mit gehen übersetzte griechische Wort meint, gehen (einhergehen, wandeln) nach Gottes Weisungen auf Wegen der Befreiung.

    Nach den 38 Jahren, in denen Israel am „Gebirge Seir entlangzog“ (Dtn 2,1) bzw. um sich selbst kreisend in die Irre gegangen war, hatte Mose im Auftrag Gottes das erlösende Wort: „Und jetzt steh auf…“ (Dtn 2,13) gesprochen. So spricht nun der Messias, in dem Gottes Wort „Fleisch geworden“ ist und „unter uns gewohnt hat“ (Joh 1,14) angesichts der Lähmung Israels durch die ‚riesige‘ Macht Roms das befreiende Wort: „Steh auf...“

    Und das Wort geschieht – wie wir aus Gen 1 wissen oder wie Jesaja als Spruch Gottes sagt: „Es kehrt nicht leer zu mir zurück, ohne zu bewirken, was ich will, und das zu erreichen, wozu ich es ausgesandt habe“ (Jes 55,11b). Genau das geschieht in der Heilung des Gelähmten: „Sofort wurde der Mann gesund, nahm seine Liege und ging.“ Weil das Fest ein Wallfahrtsfest war und Jesu den Mann im Tempel wieder trifft, können wir davon ausgehen, dass er zum Tempel ging, also sofort damit anfing auf den Wegen der Tora zu gehen.

    Das Problem, an dem sich der nun folgende Streit entzündet, steckt in der Aussage, die Johannes gleichsam nachschiebt: „Dieser Tag aber war ein Sabbat.“  

     

    Da sagten die Juden zu dem Geheilten: Es ist Sabbat, du darfst deine Liege nicht tragen. Er erwiderte ihnen: Der mich gesund gemacht hat, sagte zu mir: Nimm deine Liege und geh! Sie fragten ihn: Wer ist denn der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm deine Liege und geh? Der Geheilte wusste aber nicht, wer es war. Jesus war nämlich weggegangen, weil dort eine große Menschenmenge zugegen war. (5,10-13)

    Der Sabbat ist Anlass dafür dass, „die Juden“, genauer gesagt die ‚führenden Juden‘, die als Behörde agieren, die Bühne der Erzählung betreten. Sie überprüfen die Einhaltung des Sabbatgebots.

    Biblisch findet sich dieses Verbot in den Zehn Geboten (Ex 20,8ff, Dtn 5,12ff). Eine für unsere Stelle besonders deutliche Ausformulierung hat es in Jer 17,21f. gefunden: „So spricht der HERR: Hütet euch um eures Lebens willen, am Tag des Sabbat eine Last zu tragen… Vielmehr sollt ihr den Tag des Sabbats heiligen...“[4] Zur Heiligung des Sabbats gehört es – so wird hier eingeschärft – keine „Last zu tragen“.

    Genau das aber geschieht in der Szene, mehr noch: Dass der Geheilte aufstehen und gleichsam die Last seiner Lähmung in die Hand nehmen kann, ist Ausdruck seiner Heilung und als ‚Zeichen und Wunder‘ zu verstehen.

    Entsprechen antwortet der Mann: „Der mich gesund gemacht hat, sagte zu mir: Nimm deine Liege und geh!“ Er wusste nicht, wer Jesus war, aber er erkannte in seinem rettenden und befreienden Handeln Gottes Autorität. Daran hängt Jesu Autorität. Er gewinnt sie dadurch, dass er den Gelähmten gesund gemacht hat. Wer heilen kann, der kann auch sagen: Trage deine Liege, selbst wenn Sabbat ist. Wer Israel aus seiner Lähmung befreit, in ihm wirkt Gottes Autorität. In der Autorität Gottes führt der Messias den Weg der Befreiung weiter.

     

    Danach traf ihn Jesus im Tempel und sagte zu ihm: Sieh, du bist gesund geworden; sündige nicht mehr, damit dir nicht noch Schlimmeres zustößt! (5,14)

    Jesus findet den Gelähmten im Tempel. Es gibt keine zufälligen Begegnungen im Johannesevangelium. Wie er zunächst seine Jünger und dann auch Natanael gefunden hatte (Joh 1,43ff), so findet er nun den Geheiltem im Tempel. Jesus spricht zu ihm, erinnert ihn an seine Rettung und ermahnt ihn: „sündige nicht mehr, damit dir nicht noch Schlimmeres zustößt“. Die Heilung am Sabbat ist der Anlass, Jesus zu verfolgen (vgl. V. 16). Vor diesem Hintergrund dürfte das „noch Schlimmere“, die schlimmste Verirrung, sein, Jesus zu töten (vgl. Joh 7,31ff). Wer dies betreibt, gehört nicht mehr zu den „Kindern Abrahams“ (7,39); denn: „So hat Abraham nicht gehandelt“ (Joh 7,40). Vor solcher Verirrung soll sich der ‚behördlich‘ befragte Gelähmte hüten. Von denen also, die letztlich den Tod Jesu betreiben, soll Israel sich nicht in die Irre führen und lähmen lassen.

     

    Der Mann ging fort und teilte den Juden mit, dass es Jesus war, der ihn gesund gemacht hatte. 16 Daraufhin verfolgten die Juden Jesus, weil er das an einem Sabbat getan hatte. (5,15-16)

    Die Mitteilung an die ‚Behörde‘ und die damit einsetzende Verfolgung Jesus unterstreicht zugleich die Gefahren, in denen sich der Geheilte befindet. Die Verfolgung kann auch auf ihn überspringen und dann lauert die Gefahr, mit der Behörde auch im Blick auf Jesu Tötung zu kooperieren. Damit ist nichts über seinen weiteren Weg gesagt, er verschwindet nun genauso spurlos wie vorher Nikodemus (vgl. Joh 3,1-21). Jedenfalls haben die führenden Juden nach der Identifizierung Jesu als den, der Israels Lähmung überwindet und damit widerständig gegen Roms Herrschaft macht, einen Grund Jesus zu verfolgen. Sie wollen schließlich Israel ‚ruhig‘ und ‚lahm‘ halten angesichts der Herrschaft Roms. Wie nach der Begegnung mit Nikodemus beginnt Jesus in Vers 20 eine Rede, die zwar veranlasst ist durch die Begegnung mit dem Gelähmten, die aber ohne Gesprächspartner auskommt. Doch zuvor wird der Dissens noch einmal auf den Punkt gebracht.

     

    Jesus aber entgegnete ihnen: Mein Vater wirkt bis jetzt und auch ich wirke. (5,17)

    Gottes ‚Ruhe‘ am Sabbat ist offensichtlich nicht wirkungslos. In Gen 2,1 steckt dies darin, dass ‚Vollenden‘ und ‚Ruhen‘ zusammen kommen, wenn es heißt: Gott „vollendete“ sein Werk und er „ruhte … nachdem er sein ganzes Werk gemacht hatte“. Sprachlich wird unterschieden zwischen ‚vollenden‘ und ‚machen‘. Das Werk ist gemacht, aber noch nicht vollendet. Daher muss Gott weiter ‚wirken‘. Das gilt in zweifacher Hinsicht: Wenn Gott Schöpfer und Erhalter des Lebens ist, muss er auch am Sabbat ‚wirken‘, wenn sein Werk nicht zusammen brechen soll. Zum zweiten ist dasWerk noch nicht vollendet. Denn sonst wäre die in Gerechtigkeit und Frieden vollendete Ruhe des Sabbats bereits Wirklichkeit. Die Herrschaft der Römer dementiert aber geradezu die Vollendung der Schöpfung. „Schabbat ist erst, wenn alle Werke getan sind, wenn alle Menschen heil sind und sie endlich das sind, was sie sind: Ebenbild Gottes.“[5] Die Menschen unter der Herrschaft Roms sind gerade nicht Ebenbild Gottes, sie müssen es erst werden, in dem sie befreit werden aus der Knechtschaft Roms. So wie der Vater in der Geschichte Israels immer wieder Befreiung bewirkt hat und wirkt, so wirkt auch Jesus. Genau darin zeigt sich seine Einheit mit dem Vater – ohne dass Jesus mit ihm verschmilzt. Der Vater bleibt der Sendende und der Sohn der Gesandte.

     

    Darum suchten die Juden noch mehr, ihn zu töten, weil er nicht nur den Sabbat brach, sondern auch Gott seinen Vater nannte und sich damit Gott gleichmachte. (5,18)

    Für die führenden Juden ist diese Einheit im Wirken Gotteslästerung. Für sie bedeutet solche Einheit, dass Jesus sich „Gott gleichmachte“. Es geht aber nicht um die Vergottung bzw. Vergötzung Jesu. Das behauptet auch nicht die Formel des Konzils von Chalcedon, wenn es darin heißt Jesus sei wahrer Mensch und wahrer Gott.

    Dies gilt gerade nicht in einer identitären Identifikation, nach der Jesus gleich Gott zu setzen wäre, sondern „unvermischt und ungetrennt“, d.h. Gott und Mensch in Jesus dürfen weder vermischt noch voneinander getrennt werden. Damit wird es möglich – wie es ja seinen Niederschlag in der Trinitätslehre gefunden hat –, die Relation von Vater und Sohn zu denken, sowohl – ontologisch – den Vater als den ursprunglosen Ursprung des Sohnes jenseits der Zeit, der in der Zeit Mensch geworden ist – eben ‚wahrer Mensch und nicht ein menschlich verkleideter Gott als auch heilsgeschichtlich in der Spur des Johannes als Einheit zwischen Vater und Sohn, die in ihrem gemeinsamen Wirken zur Geltung kommt. Im Zusammenhang dieser Einheit im Wirken steht der Sohn in einer Beziehung, einer Relation zum Vater, nach der er der Beauftragte und Gesandte des Vaters ist, in dessen Wirken genau das ‚geschieht‘, was Inhalt des Gottesnamens ist.

    Schöpfung und Befreiung verdanken sich des schöpferischen und rettenden Wortes Gottes.

     

    Die führenden Juden suchen nun Jesus nicht wegen eines abstrakten Anspruchs zu töten, sondern wegen des Inhaltes seines Wirkens, das auf Befreiung auch von der Herrschaft Roms zielt und den Anspruch erhebt, genau in diesem Wirken eins mit Israels Gott der Befreiung zu sein. Die konfliktreiche auf Jesu Hinrichtung zielende Auseinandersetzung darum, zieht sich von nun an mit zunehmender Schärfe durch den weiteren Erzählfaden unseres Evangeliums und wird in der Heilung des Blindgeboren (Joh 9) und in der Auferweckung des Lazarus (Joh 11) samt deren tödlichen Folgen seinen Höhepunkt erreichen.

     

    Die Botschaft von der Heilung des Gelähmten (Israel) führt uns schmerzlich vor Augen, dass wir uns nicht selbst retten können. Es braucht das rettende Wort Gottes, das wir nicht erzwingen können. Für uns von der Aufklärung verseuchte Menschen, die sich als Selber-Denker und -Macher verstehen, ist das mal wieder schwer zu verdauen, vielleicht sogar eine narzisstische Kränkung. Obwohl die aufgeklärte Geschichte des Kapitalismus an den Rand lähmenden Wahns und gähnenden Abgrunds führt, scheint es keine Irritation und Unterbrechung des Denkens und Machens in der vernichtenden Logik des Kapitalismus zu geben. Statt dieser Logik des Todes zu vertrauen, käme es für messianische Gemeinden auch heute darauf an, sich dem Wort, das in der Geschichte Israels und in seinem Messias geschieht und geschehen will, anzuvertrauen, neu – wie Karl Rahner es genannt hat – „Hörer (und Innen) des Wortes“ zu werden, sich der Selbstmitteilung Gottes, dem Primat seiner alle geschlossene Immanenz öffnenden Gnade anzuvertrauen und genau dies in kritischem Denken und Widerstand gegen einen katastrophischen Kapitalismus zur Geltung zu bringen, dessen Herrschaft gerade in ihrem Zerbrechen mit einer wahnhaften Selbst- und Weltvernichtung einher zu gehen droht.

     

     

    Zusammengestellt von

    Alexander Just

     


    [1] Ton Veerkamp, Der Abschied des Messias. Eine Auslegung des Johannesevangeliums, I. Teil: Johannes 1,1-10,21, Texte und Kontexte Nr. 109-111, 2006, 96. [Veerkamp, Abschied]

    [2] Veerkamp, Abschied 96.

    [3] Veerkamp, Abschied 97.

    [4] Vgl. Wengst, Klaus, Das Johannesevangelium. 1. Teilband: Kapitel 1-10, Stuttgart 2000 (Theologischer Kommentar zum Neuen Testament Bd. 4), 187f.

    [5] Veerkamp, Abschied 100.

  • Teil 11: Auslegung zu Joh 4,43-54

    Teil 11: Auslegung zu Joh 4,43-54

    Die ersten Verse unserer Perikope erzählen von Jesu Rückkehr nach Galiläa und seiner freundlichen Aufnahme durch die Galiläer (V. 43f). Die folgenden Verse rücken in „Kana in Gäliläa“ (V. 46) ein weiteres Zeichen Jesu, die Heilung des Sohnes eines königlichen Beamten in den Mittelpunkt (VV. 46-54).

    43 Nach diesen beiden Tagen ging er von dort nach Galiläa. 44 Jesus selbst hatte nämlich bezeugt: Ein Prophet wird in seiner eigenen Heimat nicht geehrt. 45 Als er nun nach Galiläa kam, nahmen ihn die Galiläer auf, weil sie alles gesehen hatten, was er in Jerusalem auf dem Fest getan hatte; denn auch sie waren zum Fest gekommen. 46 Jesus kam wieder nach Kana in Galiläa, wo er das Wasser in Wein verwandelt hatte. In Kafarnaum lebte ein königlicher Beamter; dessen Sohn war krank. 47 Als er hörte, dass Jesus von Judäa nach Galiläa gekommen war, suchte er ihn auf und bat ihn, herabzukommen und seinen Sohn zu heilen; denn er lag im Sterben. 48 Da sagte Jesus zu ihm: Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, glaubt ihr nicht. 49 Der Beamte bat ihn: Herr, komm herab, ehe mein Kind stirbt! 50 Jesus erwiderte ihm: Geh, dein Sohn lebt! Der Mann glaubte dem Wort, das Jesus zu ihm gesagt hatte, und machte sich auf den Weg. 51 Noch während er hinabging, kamen ihm seine Diener entgegen und sagten: Dein Junge lebt. 52 Da fragte er sie genau nach der Stunde, in der die Besserung eingetreten war. Sie antworteten: Gestern in der siebten Stunde ist das Fieber von ihm gewichen. 53 Da erkannte der Vater, dass es genau zu der Stunde war, als Jesus zu ihm gesagt hatte: Dein Sohn lebt. Und er wurde gläubig mit seinem ganzen Haus. 54 So tat Jesus sein zweites Zeichen, nachdem er von Judäa nach Galiläa gekommen war.

    Nach diesen beiden Tagen ging er von dort nach Galiläa. Jesus selbst hatte nämlich bezeugt: Ein Prophet wird in seiner eigenen Heimat nicht geehrt. 45 Als er nun nach Galiläa kam, nahmen ihn die Galiläer auf, weil sie alles gesehen hatten, was er in Jerusalem auf dem Fest getan hatte; denn auch sie waren zum Fest gekommen. (4,43ff)

    Nachdem Jesus zwei Tage bei den Menschen in Samarien geblieben, sie gelehrt und zum Glauben geführt hatte, „ging er von dort nach Galiläa“. Irritierend wirkt die Begründung, Jesus habe bezeugt, ein Prophet werde „in seiner Heimatstadt nicht geehrt“. Vielen ist dieser Satz aus den Zusammenhängen der synoptischen Evangelien vertraut. Dort stößt Jesus in seiner Heimatstadt Nazareth in Galiläa auf Ablehnung (Mt 13,54-58, Mk 6,1-5, Lk 4,24-30). Johannes aber erzählt das Gegenteil: Jesus wird in Galiläa aufgenommen (V. 45). Der scheinbare Gegensatz klärt sich, wenn wir – entsprechend der Erzählung des Johannes – davon ausgehen, dass im Evangelium des Johannes nicht Nazareth, sondern Jerusalem die ‚Heimat‘ Jesu ist. Dort steht „das Haus meines Vaters“ (2,16). Nach Jerusalem pilgert Jesus immer wieder zu den Festtagen. So war er nach der Hochzeit zu „Kana in Galiläa“ (2,1-12) zum „Paschafest der Juden … nach Jerusalem“ hinaufgezogen (2,1ff). Dort hatte er den Tempel gereinigt mit der Begründung: „… macht das Haus meines Vaters nicht zu einer Markthalle“ (2,16). Jerusalem – das macht bereits der erste Weg Jesu nach Jerusalem – deutlich ist der Ort, wo er „in sein Eigentum“ kommt, aber die „Seinen nahmen ihn nicht auf“ (1,11). Vielmehr betrieben die Hohepriester in Kooperation mit Rom seine Hinrichtung.In Jerusalem wird Jesus nicht geehrt, in Galiläa hingegen aufgenommen – und zwar weil Galiläer, die auch zum Paschafest gekommen waren, gesehen hatten, „was er in Jerusalem und auf dem Fest getan hatte“ (V. 44). Jesus ehren bedeutet, ihn als den aufnehmen, in dessen Worten und Taten geschieht, was der Name von Israels Gott beinhaltet. In diesem Sinn wird er in Galiläa aufgenommen, in seiner ‚Heimat‘ Jerusalem aber abgelehnt und hingerichtet.

    Jesus kam wieder nach Kana in Galiläa, wo er das Wasser in Wein verwandelt hatte. (4,45f)

    Johannes ruft mit dem Hinweis auf das Weinwunder Jesu erstes, d.h. sein grundlegendes, sein primäres Zeichen in Erinnerung. Das Hochzeitsfest, auf dem dieses Zeichen geschieht, steht dafür, dass Gott und sein Volk zusammenkommen. Dem dient – so interpretiert es Johannes – die Sendung Jesu, Gottes Volk nach der Zerstörung Jerusalems neu zu sammeln und aufzurichten. Das ist die Hochzeit Gottes mit seinem Volk.

    In Kafarnaum lebte ein königlicher Beamter; dessen Sohn krank war. Als er hörte, dass Jesus von Judäa nach Galiläa gekommen war, suchte er ihn auf und bat ihn, herabzukommen und seinen Sohn zu heilen; denn er lag im Sterben. (4,46f)

    Nachdem Johannes die prinzipielle Orientierung, auf die alle Zeichen Jesu ausgerichtet sind, deutlich gemacht hat, tritt nun „ein königlicher Beamter“ auf. Er steht im Dienst eines von Rom eingesetzten Königs wie wir ihn als Herodes kennen. Solche ‚Beamte‘ werden aus der Bevölkerung Israels rekrutiert, die sie nun im Dienst ihres Herren bzw. Roms ausbeuten und drangsalieren. Insofern geht es in unserer Erzählung um die Sammlung eines der verlorenen Söhne Israels. Das wird noch einmal dadurch unterstrichen, dass der Kranke, der im Sterben lag, der Sohn des königlichen Beamten ist. Der Akzent den Johannes setzt, wird im Unterschied zu den ähnlichen Geschichten deutlich, die Matthäus (8,5-13) und Lukas (7,1-10) erzählen. Statt um einen Heiden, der sich als „königlicher Beamter“ bei einem römischen Vasallenkönig verdingt, und seinen kranken Diener, geht es bei Johannes um einen verlorenen Juden und seinen Sohn. Der königliche Beamte lässt an Nikodemus denken, der, auch aus dem Kreis der führenden Juden, nachts zu Jesus gekommen war, beeindruckt von seinen Worten und Taten, aber nicht überzeugt genug um sich offen mit Jesus sehen zu lassen und nach seiner nächtlichen Begegnung mit Jesus zunächst einmal spurlos verschwindet.

    Da sagte Jesus zu ihm: Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, glaubt ihr nicht. (4,48)

    Dieser Satz Jesu wird missverstanden, wenn er nach dem Schema von äußerlich Sichtbarem und dem unsichtbaren Inneren gedeutet wird. Dann bleiben die „Zeichen und Wunder“ äußerlich während der Glaube innerlich und unsichtbar bleibt. Das ‚Eigentliche‘ und ‚Wahre‘ bleibt unsichtbar und verzichtet auf ‚Äußerlichkeiten‘. Diese moderne Sicht einer privatisierten Innerlichkeit ist immer wieder gegen ‚die Juden‘ gewendet worden, die im ‚Äußerlichen‘ stecken bleiben, und die vermeintlich Tiefe Innerlichkeit des Glaubens ignorieren.

    Die Stärke jüdischen Denkens liegt aber genau darin, dass es der Wirklichkeit des Lebens und der Geschichte treu bleibt, statt sich in Innerlichkeit und Erbaulichkeit zu flüchten, die von den ‚äußeren‘ Katastrophen unberührt bleiben.

    In einer solchen Katastrophe steckte Israel nach der Zerstörung Jerusalems und des Tempels sowie der Zerstreuung über weite Teile des römischen Reiches. Von Befreiung war da nichts mehr zu sehen. Genau dafür aber steht die Formulierung „Zeichen und Wunder“. Gemeint sind die „Zeichen und Wunder“, unter denen Gott sein Volk aus dem Sklavenhaus Ägyptens geführt hat (vgl. Dtn 4,34). Sie stehen dafür, dass Befreiung in der geschichtlichen Wirklichkeit erfahren werden kann.

    Die Wirklichkeit, der die Gemeinde des Johannes ausgesetzt war, ist davon weit entfernt. „Zeichen und Wunder“ werden vermisst. Und wo Befreiung nicht real erfahren wird, kann es sie wohl auch nicht geben. Wenn der Glaube an Jesus nicht in Erfahrungen der Befreiung ‚sichtbar‘ werden kann, ist er nichtig. Die Flucht in fromme Innerlichkeit wird zum frommen Selbstbetrug.

    Dtn 4,9 mahnt Israel: „Vergiss nicht die Ereignisse, die du mit eigenen Augen gesehen, und die Worte, die du gehört hast! Lass sie dein Leben lang nicht aus dem Sinn! Präge sie deinen Kindern und Kindeskindern ein!“ Es gibt offensichtlich Zeiten, in denen „Zeichen und Wunder“ als Wirklichkeit der Befreiung nicht sichtbar sind. Aber auch dann verschwinden sie nicht in der Innerlichkeit, sondern bleiben als reale Ereignisse im Gedächtnis lebendig. Dann aber kann der Blick für „Zeichen und Wunder“ offen bleiben, die unter anderen Verhältnissen neu gesehen werden können.

    Es ist also keine Kritik Jesu, sondern eine nüchterne Feststellung, dass die Menschen ohne Zeichen und Wunder Jesu Wort nicht gläubig annehmen können.

    Herr, komm herab, ehe mein Kind stirbt! (4,48)

    Obwohl in der scheinbaren Unendlichkeit der römischen Herrschaft kein Zeichen der Befreiung zu sehen ist, setzt der „königliche Beamte“ sein Vertrauen auf den Messias Jesus. Die Erinnerung Israels weiß um Zeiten, in denen Gott und die Wirklichkeit der mit dem Gottesnamen verheißenen Befreiung fern war. „Zeichen für uns sehen wir nicht, es ist kein Prophet mehr da, niemand mehr ist bei uns, der weiß, wie lange noch. Wie lange, Gott, darf der Bedränger noch schmähen, da der Feind für immer deinen Namen lästern?“ heißt es in Psalm 74,9f. Auch in Zeiten, in denen „Zeichen und Wunder“ nicht zu sehen waren, hat Israel nicht von seinem Gott gelassen, sondern mit ihm gerungen, ihn mit seinen Schreien nicht in Ruhe gelassen und „Zeichen und Wunder“ der Befreiung eingefordert. Darin ist das Vertrauen lebendig geblieben, das den „königlichen Beamten“ zu der Bitte veranlasst: „Herr, komm herab, ehe mein Kind stirbt!“

    Jesus erwiderte ihm: Geh, dein Sohn lebt! (4,50)

    Jesus begibt sich nicht nach Kafarnaum, um den Sohn zu retten. In Jesu Wort ist die schöpferische Macht des Wortes Gottes lebendig. Von ihm sagt Jesaja: „Es kehrt nicht leer zu mir zurück, ohne zu bewirken, was ich will, und das zu erreichen wozu ich es ausgesandt habe“ (Jes 55,11).

    Der Mann glaubte dem Wort, das Jesus zu ihm gesagt hatte, und machte sich auf den Weg. Noch während er hinabging, kamen ihm seine Diener entgegen und sagten: Dein Junge lebt. (4,50f)

    Der Mensch“, so heißt es griechisch an dieser Stelle, vertraute dem Wort (logos). Er eilt auf Jesu Zusage hin zurück und kann sich auf das Wort verlassen. Dass der Messias vor dem Tod bewahrt, kann er als ein Zeichen verstehen, das dem vom Tod gezeichneten Israel gilt; denn in dem Sohn des königlichen Beamten, ist ganz Israel als Sohn Gottes gegenwärtig. Der Messias Jesus lässt es nicht den Tod unter der Herrschaft Roms sterben, sondern sammelt es neu, richte es auf für die Hochzeit, bei der Israel und sein Gott wieder zusammen finden. Insofern sind das erste und das zweite Zeichen, das Jesus tut, miteinander verbunden.

    Da fragte er sie genau nach der Stunde, in der die Besserung eingetreten war. Sie antworteten: Gestern in der siebten Stunde ist das Fieber von ihm gewichen. Da erkannte der Vater, dass es genau zu der Stunde war, als Jesus zu ihm gesagt hatte: Dein Sohn lebt. Und er wurde gläubig mit seinem ganzen Haus. (4,52f)

    Die „Stunde“ ist die Stunde der Rettung und Befreiung. Jesu Stunde ist jene Stunde, in der sein Leben der Solidarität bis zur letzten Konsequenz vollendet ist und er seinen Geist seinem Vater übergibt (19,30). Es ist der Geist, den die JüngerInnen an Ostern empfangen und in dessen Kraft sie gesandt werden. In der Kraft des von Gott aus dem Tod aufgerichteten sollen sie in der Nachfolge Jesu Israel sammeln und aufrichten. Sie können darauf vertrauen, dass Israels Gott in der Auferweckung des Gekreuzigten der Macht Roms widersprochen und sie wenigstens in diesem einen gebrochen hat.

    In diesem Vertrauen eröffnet sich ein neuer Blick auf „Zeichen und Wunder“ der Befreiung, die in und um den Messias Jesus überall da neu geschehen, wo das am Boden liegende und vom Tod bedrohte Israel gesammelt und als Gottes Volk aufgerichtet wird. Solche „Zeichen und Wunder“ können gesehen werden, weil der Geist Gottes als Beistand die Worte und Taten Jesu in Erinnerung ruft. Jesus hatte ihn versprochen „als Beistand …, den der Vater in meinem Namen senden wird, der euch an alles erinnern wird, was ich euch gesagt habe“ (14,26).

    Der „königliche Beamte“ hatte gleichsam auf „Vorschuss“ vertraut1. Aus der Perspektive von Ostern und in der erinnernden Kraft des Geistes, lässt sich in der Befreiung, die er erfahren hat, eines der „Zeichen und Wunder“ erkennen, die mit dem Messias Jesus Wirklichkeit werden.

    Er und sein ganzes Haus, Frau, Kinder, Gesinde, vertrauen, weil alle gesehen haben, dass das Wort geschieht.“2 Der Glaube ist nicht innerlich. Er wird wirklich, verändert die Wirklichkeit. Und das kann gesehen werden. Zeichen und Wunder sind dem Glauben nicht äußerlich. Er wird nur dann wirklich, wenn er auch in der ‚äußeren‘ Wirklichkeit als „Zeichen und Wunder“ sichtbar wird.

    So tat Jesus sein zweites Zeichen, nachdem er von Judäa nach Galiläa gekommen war. (4,54)

    Dieser kurze Abschlusssatz bündelt das Geschehen noch einmal. Jesu erstes und zweites Zeichen sind untrennbar miteinander verbunden. Das Fest der messianischen Hochzeit Gottes mit seinem Volk ist damit verbunden, dass das Volk aus dem drohenden Tod aufgerichtet wird. „Alle Zeichen, die in Israel, Jehuda, Jeruschalajim und im Galil geschehen, können und müssen auf die zwei Zeichen 2,1ff und 4,46ff zurückgeführt werden.

    Mit diesen zwei Zeichen, der messianischen Hochzeit und der Belebung des Sohnes, ist das Fundament für das Kommende gelegt. Hier – und so – wurde der Messias ‚offenbar‘“.3

    1 Ton Veerkamp, Der Abschied des Messias. Eine Auslegung des Johannesevangeliums I. Teil: Johannes 1,1-10,21, in: Texte & Kontexte. Exegetische Zeitschrift Nr. 109-111, 29. Jahrgang 1-3/2006, 93. [Veerkamp, Abschied]

    2 Veerkamp, Abschied 93.

    3 Veerkamp, Abschied 93.

     

  • Teil 10: Auslegung zu Joh 4,27-42 „Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat, und sein Werk zu vollenden“

    Teil 10: Auslegung zu Joh 4,27-42 „Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat, und sein Werk zu vollenden“

    Zum Anschluss unserer Perikope an das Gespräch Jesu mit der Frau aus Samaria (4,1-25)

    Das Gespräch Jesu mit der samaritanischen Frau hat zur Frage nach dem Messias geführt. Entsprechend der jüdischen Tradition formuliert die Frau: „Ich weiß, dass der Messias kommt…“ (4,25). Darüber hinaus nun soll sie zu der Erkenntnis kommen, dass er schon da ist – und zwar in dem, der mit ihr spricht. Er ist gekommen, um Israel, das nach der Zerstörung Jerusalems am Boden liegt und nun über das ganze Reich verstreut ist, aufzurichten und wieder neu zu Gottes Volk zu sammeln. Der Gesprächszusammenhang wird nun durch die Rückkehr der Jünger unterbrochen. Sie kommen aus der Stadt, in die sie gegangen waren, „um etwas zum Essen zu kaufen“ (4,8).

    27 Inzwischen waren seine Jünger zurückgekommen. Sie wunderten sich, dass er mit einer Frau sprach, doch keiner sagte: Was suchst du? oder: Was redest du mit ihr? 28 Die Frau ließ ihren Wasserkrug stehen, kehrte zurück in die Stadt und sagte zu den Leuten: 29 Kommt her, seht, da ist ein Mensch, der mir alles gesagt hat, was ich getan habe: Ist er vielleicht der Christus? 30 Da gingen sie aus der Stadt heraus und kamen zu ihm. 31 Währenddessen baten ihn seine Jünger: Rabbi, iss! 32 Er aber sagte zu ihnen: Ich habe eine Speise zu essen, die ihr nicht kennt. 33 Da sagten die Jünger zueinander: Hat ihm jemand etwas zu essen gebracht? 34 Jesus sprach zu ihnen: Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat, und sein Werk zu vollenden. 35 Sagt ihr nicht: Noch vier Monate dauert es bis zur Ernte? Sieh, ich sage euch: Erhebt eure Augen und seht, dass die Felder schon weiß sind zur Ernte! 36 Schon empfängt der Schnitter seinen Lohn und sammelt Frucht für das ewige Leben, sodass sich der Sämann und der Schnitter gemeinsam freuen. 37 Denn hier hat das Sprichwort recht: Einer sät und ein anderer erntet. 38 Ich habe euch gesandt zu ernten, wofür ihr euch nicht abgemüht habt; andere haben sich abgemüht und euch ist ihre Mühe zugutegekommen. 39 Aus jener Stadt kamen viele Samariter zum Glauben an Jesus auf das Wort der Frau hin, die bezeugt hatte: Er hat mir alles gesagt, was ich getan habe. 40 Als die Samariter zu ihm kamen, baten sie ihn, bei ihnen zu bleiben; und er blieb dort zwei Tage. 41 Und noch viel mehr Leute kamen zum Glauben an ihn aufgrund seiner eigenen Worte. 42 Und zu der Frau sagten sie: Nicht mehr aufgrund deiner Rede glauben wir, denn wir haben selbst gehört und wissen: Er ist wirklich der Retter der Welt.

    Sie wunderten sich, dass er mit einer Frau sprach, doch keiner sagte: Was suchst du? Oder: Was redest du mit ihr? (Vers 27)

    Die Verwunderung darüber, dass Jesus mit einer Frau spricht, dürfte eine Reaktion auf Tendenzen in den messianischen Gemeinden sein, führende Rollen von Frauen zurück zu drängen. Dagegen betont Johannes die Bedeutung von Frauen in der Gestalt der Maria Magdalena, die zur ersten Verkünderin der Botschaft von der Auferweckung des gekreuzigten Messias wird (20,11-18). Analog dazu wird die Samaritanerin zur Verkünderin des Messias als „Retter der Welt“ (V. 42) werden. Die in unserer Szene als männlich vorzustellende Jünger repräsentieren diejenigen, die eher skeptisch sind gegenüber führenden Frauen in der Gemeinde; sie wagen aber nicht sich mit kritischen Nachfragen dagegen zu stellen.

    Die Frau ließ ihren Wasserkrug stehen, kehrte zurück in die Stadt und sagte zu den Leuten: Kommt her, seht, da ist ein Mensch, der mir alles gesagt hat, was ich getan habe: Ist er vielleicht der Christus? Da gingen sie aus der Stadt heraus und kamen zu ihm.“ (Verse 28-30)

    In einem Atemzug werden zwei Vorgänge erzählt: Die Frau lässt den Wasserkrug stehen und kehrt in die Stadt zurück. Mit dem Wasserkrug lässt sie ihr altes Leben zurück: Verhältnisse, in denen sie dazu ‚verurteilt‘ ist, in der heißen Mittagszeit Mengen an Wasser herbei zu schleppen, ebenso wie die Abhängigkeit von ihrem Mann im Zusammenhang von Zwängen, sich an Männer binden zu müssen, um überleben zu können. In der Stadt ‚muss‘ sie erzählen, was und wer ihr begegnet ist. Dabei beginnt sie, von Jesus als dem Messias Zeugnis zu geben. Ihr Zeugnis formuliert sie zunächst zögerlich, fragend: Ist er vielleicht der Christus? Nachdenklich ist sie geworden, weil ihr in Jesus ein Mensch begegnet ist, der ihr alles gesagt hat, was sie getan hat. Wer von der traditionellen kirchlichen Ehemoral geprägt ist, wird daran denken, dass Jesus um die Sünde des Ehebruchs gewusst habe. Das aber hat mit unserem Text nichts zu tun. Jesus hat ihr nicht Verfehlungen vorgehalten, sondern ist ihr als einer begegnet, der einen klaren Blick für ihr Leid und ihre Abhängigkeiten hatte. Dadurch, dass Jesus ihre elendige Existenz erkannt und sie davon befreit hat, ist er ihr Retter geworden. Dass muss sie den „Leuten“ in der Stadt erzählen. Er ist ihr so begegnet, wie sie es von Israels Gott kennt, von dem in den Schriften erzählt wird, dass er die Schreie der Versklavten hört und einen Befreier sendet sie aus der Sklaverei zu befreien (Ex 2,23 – 3,17).

    Ihre Aufforderung: „Kommt her, seht…“ greift Jesu Wort an Andreas und Petrus auf, mit dem er sie zur Nachfolge einlädt (1,39) ebenso wie Jesu Wort an Natanael (1,46), den er, bevor er ihn rief, bereits „unter dem Feigenbaum gesehen“ (1,48) hatte. Mit der Aufforderung, zu kommen und zu sehen, beginnt die Frau die Botschaft von Jesus als dem Messias zu verbreiten, obwohl sie noch unsicher fragt: „Ist er vielleicht der Christus?“ Und tatsächlich die Leute kommen und wollen sehen. Sie „gingen aus der Stadt heraus und kamen zu ihm.“ Das verstreute Israel beginnt sich um seinen Messias zu sammeln.

    Indessen kommen die Jüngerinnen und Jünger zurück, die den müden Meister am Brunnen zurück gelassen hatten, um ihm etwas zu essen zu kaufen. Sie fordern ihn auf, zu essen und sich zu stärken. Doch Jesus antwortet ihnen:

    Ich habe eine Speise zu essen, die ihr nicht kennt. (Vers 32)

    Die Jünger, die das Gespräch Jesu mit der Frau nicht mitbekommen haben, verstehen zunächst nicht, was gemeint ist. Sie spekulieren, ob sie vielleicht Jesus „etwas zu essen gebracht“ (V. 33) habe. Während die samaritanische Frau auf dem Weg ist, Jesus als den Messias zu erkennen und was dies bedeutet, bleiben die Jünger auf der Ebene der Phänomene stehen. Sie erkennen nicht, dass das reale Brot zugleich ein Zeichen für etwas sein kann, das nicht unmittelbar sichtbar ist. Deshalb muss Jesus sie ‚belehren‘:

    Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat, und sein Werk zu vollenden. (Vers 34)

    In dieser ‚Belehrung‘ knüpft Jesus an das an, was Israel vertraut ist bzw. sein müsste. Israel lebt von der Tora. Sie ist Brot für Israel; denn Gott hat Israel auf dem Weg durch die Wüste erkennen lassen, „dass der Mensch von allem lebt, was der Mund des Herrn spricht“ (Dtn 8,3). Die Tora ist auch die Speise, von der der Messias lebt. Sie ist eine Speise, die getan werden muss. Das bedeutet für den Messias Gottes Werk der Befreiung „zu vollenden“, zu einem guten Ende zu führen. Dieses gute Ende aber führt über die Hinrichtung am Kreuz der Römer. Hier ist „alles vollbracht“ (19,28.30). Es ist „vollbracht“, weil Jesus in der Stunde seines Todes dem Vater den Geist „übergab“ – wie inzwischen auch die Neue Einheitsübersetzung formuliert. Alles, was er „vollbracht“ hat, sein ganzes Leben übergibt er dem Vater.

    Es ist sein Leben, das bis in den Tod solidarisch, eins war mit dem Vater (10,30) und in der Solidarität mit Israel eins war mit den „Seinen, die in der Welt waren, … bis zur Vollendung“ (13,1). Im „Werk“ des Messias ist Israels Gott gegenwärtig und solidarisch mit denen, die in der Welt sind und unter der herrschenden Weltordnung leiden und nach Rettung schreien. In ihm führt er sein Werk zur Vollendung, zu einem guten Ende. Dieses ist die Rettung des Messias aus der Macht Roms in der Auferweckung des Gekreuzigten. Darin gründet die Hoffnung auf die Rettung aller, die „in der Welt“ unter der Gewalt von Herrschenden und Systemen der Herrschaft zu leiden haben.

    Jetzt, da Israel am Boden liegt und zerstreut ist, ist die Zeit reif, das Werk zu tun, Israel aufzurichten und zu sammeln, solidarisch zu sein mit Israel. Wie damals nach der Zerstörung Jerusalems durch Babylon muss Israel, Gottes zerstreute Herde, neu gesammelt werden (Jer 31,10f). Das zentrale Werk Gottes ist die Befreiung aus Ägypten. Er hat es weitergeführt in der Befreiung aus Babylon. Nun führt der Messias es weiter in der Sammlung Israels nach seiner Zerstreuung durch den Krieg der Römer. An seinem Kreuz kommt es durch Gottes rettende Solidarität mit dem Messias zur Vollendung. Im Vorgriff der Hoffnung auf die darin gründende Rettung aller ist die Zeit jetzt reif zur Ernte:

    Sagt ihr nicht: Noch vier Monate dauert es bis zur Ernte? Sieh, ich sage euch: Erhebt eure Augen und seht, dass die Felder schon weiß sind zur Ernte! Schon empfängt der Schnitter seinen Lohn und sammelt Frucht für das ewige Leben, sodass sich der Sämann und der Schnitter gemeinsam freuen. Denn hier hat das Sprichwort recht: Einer sät und ein anderer erntet. Ich habe euch gesandt zu ernten, wofür ihr euch nicht abgemüht habt; andere haben sich abgemüht und euch ist ihre Mühe zugutegekommen. (Verse 35-38)

    Die Ernte besteht darin, „Frucht für das ewige Leben“ zu sammeln. Gemeint ist nicht einfach das ‚Jenseits‘, sondern eine neue Zeit, in der Menschen befreit von Herrschaft, von Verhältnissen der Unter- und Überordnung befreit in Solidarität miteinander leben und spüren können, dass dies Bestand hat über den Tod, der von den Römern droht und über jeden Tod.

    Das Sprichwort von Saat und Ernte, das Jesus zitiert, steht in Kontrast zu aus der Schrift vertrauten Worten, in denen es oft heißt, wer sät, soll auch ernten. Wer nicht sät und doch erntet, sind Fremdherrscher oder Reiche und Mächtige in Israel, die andere für sich schuften lassen, aber die Ernte einkassieren. Bleiben Saat und Ernte in einer Hand, ist das Ausdruck befreiten Lebens. Jesus greift dieses Bild auf und führt es in einen anderen Zusammenhang. Die Jüngerinnen und Jünger leben von dem Wort, von der Tora und den Propheten, also von dem, was andere ausgestreut und gesät haben.

    Als messianische Gemeinde leben sie zugleich von der Treue Gottes zu seinem Messias, der ihn aus der Gewalt Roms gerettet hat und darin von der Hoffnung, dass diese Rettung auch ihr und ganz Israel und darin allen Menschen gilt, die als „die versprengten Kinder Gottes“ (11,52) gesammelt werden sollen. Dafür hat Jesus sein Leben eingesetzt, dafür „sollte“ er „sterben“ (11,51).

    Das was durch das vollendete Werk des Messias, in dem Israels Gott als Retter am Werk ist, gesät worden ist, soll geerntet werden. Deshalb können „sich der Sämann und der Schnitter gemeinsam freuen“ (V. 36). Geerntet werden kann das ‚ewige Leben‘, das jetzt schon in gelebter Solidarität zum Durchbruch kommt, die Hoffnung, dass Gott der gegen Rom das ‚letzte Wort‘ behalten hat wie es in der Auferweckung des Messias zum Ausdruck kommt, auch gegenüber seinen „versprengten Kindern“ erweisen wird, dass er das ‚letzte Wort‘ behält.

    Aus jener Stadt kamen viele Samariter zum Glauben an Jesus auf das Wort der Frau hin, die bezeugt hatte: Er hat mir alles gesagt, was ich getan habe. (Vers 39)

    Mit dem Wort der Frau hat die Sammlung der „versprengten Kinder Gottes in Samaria begonnen. Sie hat Zeugnis gegeben vom Messias, der ihr Elend gesehen hat, wie Gott das Elend der in Ägypten versklavten gesehen hat.

    Als die Samariter zu ihm kamen, baten sie ihn, bei ihnen zu bleiben; und er blieb dort zwei Tage. (Vers 40)

    Der Messias soll nun bei den Samaritanern bleiben. Johannes spricht oft vom ‚Bleiben‘, wenn es ihm darum geht, angesichts der Bedrohungen durch Rom nicht der messianischen Gemeinde den Rücken zu kehren, sondern solidarisch zu sein und zu ‚bleiben‘, in Jesu Wort (10,31) und in seiner Liebe, d.h. in seiner Solidarität (15,9), die in der Liebe zueinander und der Solidarität untereinander gelebt wird (15,12). Darin beinhalten das Bleiben zugleich festbleiben, durchhalten, der Macht des Imperiums solidarisch standhalten. Nur so kann ‚ewiges Leben‘ einen ‚Standort‘ haben ‚in der Welt‘ unter der Herrschaft des Imperiums.

    „Und er blieb dort zwei Tage“ erzählt Johannes. „Zwei Tage“ sind jene Tage, die auf einen größeren dritten Tag ausgerichtet sind: im engeren Zusammenhang auf die Auferweckung des Jungen eines königlichen Beamten in Kafarnaum (4,46-54) als Jesu „zweites Zeichen“ (4,54). Das erste Zeichen – die Verwandlung von Wasser in Wein auf der messianischen Hochzeit (2,1-12) – fand am „dritten Tag“ (2,1) nach der Berufung der ersten Jünger (1,35ff) statt. Nachdem Jesus sich zwei Tage im Transjordanland aufgehalten hatte, kommt es zur Auferweckung des Lazarus (11). Und schließlich: Drei Tage nach Jesu Tod wird Jesus auferweckt und erscheint seinen Jüngern (20).

    Und noch viel mehr Leute kamen zum Glauben an ihn aufgrund seiner eigenen Worte. Und zu der Frau sagten sie: Nicht mehr aufgrund deiner Rede glauben wir, denn wir haben selbst gehört und wissen: Er ist wirklich der Retter der Welt. (Verse 41 und 42)

    Die Frau hat Menschen aus Samaria zu Jesus geführt. Es kommen „noch vielmehr Leute zum Glauben nun aber „aufgrund seiner eigenen Worte“. Sie haben nun selbst gehört und wissen: „Er ist wirklich der Retter der Welt.“

    Dieses Bekenntnis zu dem von Rom gekreuzigten Messias beinhaltet den Bruch der Loyalität mit dem römischen Imperium, in dem der Kaiser als „Retter der Welt“, d.h. des römischen Reiches gepriesen wird. Dem setzt das Bekenntnis der „Leute“ entgegen: Retter kann nur Israels Gott als Befreier von Herrschaft sein – einer Befreiung wie sie im Messias Jesus am Werk ist und in denen, die seinen Weg gehen.

     

  • Teil 9: Auslegung zu Joh 4,1-30 „Ich bin es, der mit dir spricht“

    Teil 9: Auslegung zu Joh 4,1-30 „Ich bin es, der mit dir spricht“ (Joh 4, 20)

    Das dritte Kapital des Evangeliums nach Johannes schließt mit einem letzten Zeugnis des Täufers für Jesus. Jetzt rückt Jesu Wirken in den Mittelpunkt der Erzählung. Der Ort der Handlung verlagert sich zunächst von Judäa nach Galiläa. Der Weg dorthin führt durch Samarien. Auf diesem Weg begegnet Jesus einer samaritanischen Frau. Von dieser Begegnung erzählt der nächste Abschnitt unseres Evangeliums.

    1 Jesus erfuhr, dass die Pharisäer gehört hatten, er gewinne und taufe mehr Jünger als Johannes – 2 allerdings taufte nicht Jesus selbst, sondern seine Jünger – ; 3 daraufhin verließ er Judäa und ging wieder nach Galiläa. 4 Er musste aber den Weg durch Samarien nehmen. 5 So kam er zu einer Stadt in Samarien, die Sychar hieß und nahe bei dem Grundstück lag, das Jakob seinem Sohn Josef vermacht hatte. 6 Dort befand sich der Jakobsbrunnen. Jesus war müde von der Reise und setzte sich daher an den Brunnen; es war um die sechste Stunde. 7 Da kam eine Frau aus Samarien, um Wasser zu schöpfen. Jesus sagte zu ihr: Gib mir zu trinken! 8 Seine Jünger waren nämlich in die Stadt gegangen, um etwas zum Essen zu kaufen. 9 Die Samariterin sagte zu ihm: Wie kannst du als Jude mich, eine Samariterin, um etwas zu trinken bitten? Die Juden verkehren nämlich nicht mit den Samaritern. 10 Jesus antwortete ihr: Wenn du wüsstest, worin die Gabe Gottes besteht und wer es ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken!, dann hättest du ihn gebeten und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben. 11 Sie sagte zu ihm: Herr, du hast kein Schöpfgefäß und der Brunnen ist tief; woher hast du also das lebendige Wasser? 12 Bist du etwa größer als unser Vater Jakob, der uns den Brunnen gegeben und selbst daraus getrunken hat, wie seine Söhne und seine Herden? 13 Jesus antwortete ihr: Wer von diesem Wasser trinkt, wird wieder Durst bekommen; 14 wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird niemals mehr Durst haben; vielmehr wird das Wasser, das ich ihm gebe, in ihm zu einer Quelle werden, deren Wasser ins ewige Leben fließt. 15 Da sagte die Frau zu ihm: Herr, gib mir dieses Wasser, damit ich keinen Durst mehr habe und nicht mehr hierherkommen muss, um Wasser zu schöpfen! 16 Er sagte zu ihr: Geh, ruf deinen Mann und komm wieder her! 17 Die Frau antwortete: Ich habe keinen Mann. Jesus sagte zu ihr: Du hast richtig gesagt: Ich habe keinen Mann. 18 Denn fünf Männer hast du gehabt und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann. Damit hast du die Wahrheit gesagt. 19 Die Frau sagte zu ihm: Herr, ich sehe, dass du ein Prophet bist. 20 Unsere Väter haben auf diesem Berg Gott angebetet; ihr aber sagt, in Jerusalem sei die Stätte, wo man anbeten muss. [1] 21 Jesus sprach zu ihr: Glaube mir, Frau, die Stunde kommt, zu der ihr weder auf diesem Berg noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. 22 Ihr betet an, was ihr nicht kennt, wir beten an, was wir kennen; denn das Heil kommt von den Juden. 23 Aber die Stunde kommt und sie ist schon da, zu der die wahren Beter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn so will der Vater angebetet werden. 24 Gott ist Geist und alle, die ihn anbeten, müssen im Geist und in der Wahrheit anbeten. 25 Die Frau sagte zu ihm: Ich weiß, dass der Messias kommt, der Christus heißt. Wenn er kommt, wird er uns alles verkünden. 26 Da sagte Jesus zu ihr: Ich bin es, der mit dir spricht. 27 Inzwischen waren seine Jünger zurückgekommen. Sie wunderten sich, dass er mit einer Frau sprach, doch keiner sagte: Was suchst du? oder: Was redest du mit ihr? 28 Die Frau ließ ihren Wasserkrug stehen, kehrte zurück in die Stadt und sagte zu den Leuten: 29 Kommt her, seht, da ist ein Mensch, der mir alles gesagt hat, was ich getan habe: Ist er vielleicht der Christus? 30 Da gingen sie aus der Stadt heraus und kamen zu ihm.

    „Jesus erfuhr, dass die Pharisäer gehört hatten, er gewinne und taufe mehr Jünger als Johannes“ (Vers 1)

    Johannes erzählt nicht wie lange Jesus in Judäa gewirkt hat, aber er benennt den Grund, warum er zurück nach Galiläa geht. Die Pharisäer haben mitbekommen, dass Jesus mehr Schülerinnen und Schüler um sich sammelte als Johannes. Dieser hatte bereits die Aufmerksamkeit der „Juden von Jerusalem“ (1,19) auf sich gezogen. Sie hatten „Priester und Leviten“ geschickt, um nach ‚dem Rechten‘ zu sehen. Wenn Jesus nach dem Eindruck der Pharisäer noch mehr Jünger „gewinne und taufe“ gerät er immer mehr in die Schusslinie. Dies spiegelt natürlich nicht die historische Situation Jesu und des Täufers wider, sondern entspricht der Zeit des Evangelisten Johannes, in der die Pharisäer nach der Zerstörung des Tempels und der Vertreibung der Juden aus Jerusalem zur stärksten jüdischen Gruppe geworden waren.

    „ … allerdings taufte nicht Jesus selbst, sondern seine Jünger“ (Vers 2)

    Johannes korrigiert mit dieser Bemerkung die Aussage, die er selbst in 3,22 gemacht hatte, nämlich dass Jesus selbst getauft habe. Nun heißt es, nicht er, sondern seine Jünger hätten getauft. Was hinter dem Gegensatz steckt, ist schwer zu klären: War in manchen Gegenden und Kreisen das Taufen umstritten? War die Taufe des Johannes von der Taufe Jesu nur schwer zu unterscheiden, rückte die messianische Gemeinde zu nahe an den Täufer, der ja nach Johannes ‚nur‘ Zeuge des Messias ist?

    „Er musste aber den Weg durch Samarien nehmen.“ (Vers 4)

    Jesus zieht also auf dem schnellsten Weg von Judäa nach Galiläa und kommt daher zwangsläufig durch das Gebiet Samarien. Mit der Bemerkung „er musste“ könnte nach Klaus Wengst darauf angespielt sein, dass der „Weg durch Samarien“ kein ‚Zufall‘ sondern Teil der Sendung Jesu ist, ganz Israel zu sammeln. Samarien war ein der jüdischen Tradition abgesondertes Gebiet. Dies kommt auch darin zum Ausdruck, dass, nachdem das Königtum mit der Unterwerfung unter Babylon sein Ende gefunden hatte, die Bücher Josua, Richter, Samuel und Könige als von der Geschichte des ganzen Volkes Israel erzählen, um eine Besinnung auf die eigene Tradition zu ermöglichen. In den später entstehenden Büchern der Chronik geht es nur noch um Judäa, also um das ehemalige Südreich, während der Norden mehr und mehr aus dem Blick gerät. Die ‚Trennung‘ zwischen Nord und Süd, die darin zum Ausdruck kommt, hat historische Gründe. Klaus Wengst erklärt dies im Blick auf die Rolle Samariens so:

    „Die besondere Entwicklung Samariens gegenüber Judäa hat einerseits ihre Wurzeln in der imperialen assyrischen Politik, die in den zu Provinzen gemachten eroberten Gebieten durch Deportationen Mischbevölkerungen schuf – so auch in Samarien als dem Kernland des ehemaligen Nordreiches Israels nach dessen Zerstörung im Jahr 722 v. Chr. Zu einer akuten Trennung kam es aber erst in der frühen nachexilischen Zeit, als führende Jerusalemer Kreise beim Bau des Tempels und der Mauer Jerusalems die Bewohner Samariens von der Mitarbeit ausschlossen und sich von ihnen abgrenzten. Das führte … (unter Rückgriff auf Dtn 11 und 27 und Jos 8) mit Erlaubnis eines Satrapen Alexanders des Großen schließlich zum Bau eines eigenen Heiligtums der Samariter auf dem Berg Garisim bei Sichem. Die Samariter haben wie die Juden die Tora, die fünf Bücher Mose, als heilige Schrift; die weitere Entwicklung des Judentums, in der auch ‚die Propheten‘ und ‚die Schriften‘ kanonische Autorität gewannen, teilten sie nicht. Von der Makkabäerzeit an ‚tritt an die Stelle eines gemeinsamen Traditionsfundus gegenseitige Polemik‘. Die Feindseligkeiten erreichten ihren Höhepunkt, als Johannes Hyrkanos 129/128 v. Chr. den Tempel auf dem Berg Garisim zerstört. Wahrscheinlich 109 v. Chr. fügte er der Stadt Sichem dasselbe Schicksal zu. Auf der anderen Seite erzählt Josephus, dass – wahrscheinlich im Jahre 9 n. Chr. – Samariter im ganzen Tempelbereich in Jerusalem menschliche Knochen verstreuten, nachdem zu Beginn des Pessachfestes gewohnheitsgemäß kurz nach Mitternacht die Tempeltore geöffnet worden waren. Die Voraussetzungen für ein sehr gespanntes Verhältnis zwischen Juden und Samaritern auch im 1. Jh. n. Chr. und danach waren also gegeben. Dennoch darf man nicht von durchgehender Feindschaft ausgehen.“ Dennoch „ist es von den genannten Voraussetzungen her nicht verwunderlich, dass es immer wieder zu verbalen und auch handgreiflichen Auseinandersetzungen kam.“[1]

     

    „So kam er zu einer Stadt in Samarien, die Sychar hieß und nahe bei dem Grundstück lag, das Jakob seinem Sohn Josef vermacht hatte. Dort befand sich der Jakobsbrunnen. Jesus war müde von der Reise und setzte sich daher an den Brunnen“ (Verse 5 und 6)

    Dieser Ort ist für das folgende Geschehen von Bedeutung. Der Name Sychar ruft die Gegend von Sichem in Erinnerung. Sie war ein Geschenk Jakobs an Josef (Gen 48,2). „Darauf rief Jakob seine Söhne“, die Repräsentanten der 12 Stämme Israels zusammen, um sie vor seinem Tod zu segnen (Gen 49,1-27). Nach jüdischen Traditionen war hier auch die Jakobsquelle[2]. Für unseren Zusammenhang ist von Bedeutung, dass der Brunnen nicht vom Regen, sondern vom Grundwasser gespeist wird, also in ihm „lebendiges Wasser“ zu finden ist. An diesem Brunnen sind Jakob und Joseph und mit ihnen der Segen für ganz Israel mit „lebendigem Wasser“ verbunden. Verwurzelt in dieser Tradition begegnet Jesus der samaritanischen Frau. Aus dieser Begegnung wird ein neuer Anfang des Lebens für die Frau und das Verhältnis Samariens zu Israel als Ganzem. Für Israel kann eine neue Zeit beginnen, wenn es von dem „lebendigen Wasser“ trinkt, für das der Messias steht.

    … es war um die sechste Stunde. Da kam eine Frau aus Samarien, um Wasser zu schöpfen. (Verse 6 und 7a)

    Es ist also Mittagszeit. „So naheliegend es ist, dass ein Wanderer sich in der Mittagszeit an einem Brunnen niederlässt und ausruht, so ungewöhnlich ist das Wasserschöpfen um diese Tageszeit durch eine einzelne Frau.“[3] Wasserschöpfen und das Wasser zu dem Ort schleppen, an dem es gebraucht wurde, ist eine harte Tätigkeit, die in der Regel von armen Frauen verrichtet wurde. Solche Tätigkeiten, die ‚auf die Knochen‘ gingen wurden vor Sonnenaufgang verrichtet, nicht in der Mittagshitze.[4]

     Jesus sagte zu ihr: Gib mir zu trinken! (Vers 7b)

    Jesu Begegnung mit der samaritanischen Frau beginnt mit der Bitte: „Gib mir zu trinken!“ Das entspricht zum einen der Situation eines von der Reise müden und durstigen Menschen. Zugleich eröffnet es das sich daran anschließende Gespräch. Jesus hat Durst von der Reise und bittet die Person, die als erstes kommt, ihm zu trinken zu geben, da er selbst kein Schöpfgefäß dabei hat. Die Frau aus Samarien ist jedoch auf der Hut. Sie erkennt Jesus als Juden und weiß um die Situation. Während die JüngerInnen aus der Szene verschwinden, weil sie „in die Stadt gegangen“ waren, „um etwas zu essen zu kaufen“, kommen nun die Probleme im Verhältnis von Juden und Samaritanern zur Sprache. Das Problem:

     Die Juden verkehren nämlich nicht mit den Samaritern. (Vers 9b)

    Diese Erläuterung fügt Johannes noch für die Leserschaft hinzu. Jesus interessiert sich jedoch mehr für die Lebenssituation der Frau. Er will, dass die Menschen schon in ihrem Leben die Erfahrung des „ewigen Lebens“ machen und so Befreiung erfahren können. Daher sagt er:

    Wenn du wüsstest, worin die Gabe Gottes besteht und wer es ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken!, dann hättest du ihn gebeten und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben. (Vers 10)

    Zwischen dem Wissen um die „Gabe Gottes“ und Jesus, der zu der Frau sagt: „Gib mir zu trinken!“ besteht ein enger inhaltlicher Zusammenhang. Die Gabe Gottes ist „lebendiges Wasser“. Es hat in den Traditionen Israels eine zentrale Bedeutung. Sie zieht sich vom Paradies bis zum neuen Jerusalem. Das Paradies hat Gott als bewässerten Garten angelegt (Gen 2,10ff). Die Bewässerung ist die Voraussetzung seiner Fruchtbarkeit. Wenn Israel aus dem babylonischen Exil zurück geht und sich statt am Glanz königlicher Macht, wieder neu an Gottes Gerechtigkeit für die Armen als Grundlage des Zusammenlebens orientiert, gleicht es „einem bewässerten Garten, einer Quelle, deren Wasser nicht trügt“ (Jes  58,11). Israel macht wieder die Erfahrung, die es schon beim Exodus gemacht hatte. Seine „Stärke und sein Lied ist Gott, der HERR. Er wurde“ ihm „zum Heil“ (Jes 12,3). Dann gilt: „Ihr werdet Wasser freudig schöpfen aus den Quellen des Heils … Jauchzt und jubelt ihr Bewohner Zions; denn groß ist in eurer Mitte der Heilige Israels“ (Jes 12,4.6). Nach dem Propheten Jeremia ist das babylonische Exil die Konsequenz davon, dass Israel den Ruhm seines Gottes der Befreiung „gegen unnütze“, Macht und Herrschaft repräsentierende „Götter vertauscht“ (Jer 2,12) hatte. Damit hat es Gott „verlassen, den Quell des lebendigen Wassers“ (Jer 2,13).

    Nach der Zerstörung Jerusalems liegt Israel wieder am Boden. Es ist zersplittert in unterschiedliche Gruppen. In dieser Situation gibt der Messias Jesus, in dem all das gegenwärtig ist, wofür Israels Gott steht, seinem Volk „lebendiges Wasser“ zu trinken, dessen Quelle sein Gott ist, der ihm im Messias Jesus begegnet. Wenn es aus dieser Quelle trinkt, kann es als Gottes Volk wieder neu gesammelt und aufgerichtet werden. Dann hat es Zugang zu einer Quelle, aus der eine neue Weltzeit, die Weltzeit der Befreiung fließt. Es ist die Quelle einer neuen neuen Schöpfung, einen neuen Himmels und einer neuen Erde (0ffb 21). Aus ihr strömt das „Wasser des Lebens“ (Offb 22,1). Von ihm lebt die neue Stadt Jerusalem.

    Von diesem Wasser gibt Jesus seinem Volk zu trinken. Am letzten Tag des Laubhüttenfestes fordert Jesus die zum Fest Versammelten auf: „Wer Durst hat, der komme zu mir und es trinke, wer an mich glaubt! Aus seinem Inneren werden Ströme von lebendigem Wasser fließen“ (Joh 7,37).  Mit der Schrift dürfte auf den Propheten Ezechiel angespielt sein. Er verbindet die Reinigung „von all euren Götzen“ damit, dass Gottes Geist das Innerste des Volkes bestimmt, so dass es wieder den Wegen der Befreiung folgen kann (Ez 36.25ff).

    Bei Jesu Reden vom „lebendigen Wasser“ geht es nicht um die Unterscheidung zwischen realem Wasser und ‚eigentlichem‘ geistigen Wasser. Das „lebendige Wasser“ soll das gesamte Leben durchdringen, es aus einer Zeit der Unterdrückung in eine Zeit der Befreiung, aus einer Zeit des Todes in eine Zeit des Lebens verwandeln.

    Sie sagte zu ihm: Herr, du hast kein Schöpfgefäß und der Brunnen ist tief; woher hast du also das lebendige Wasser? Bist du etwa größer als unser Vater Jakob, der uns den Brunnen gegeben und selbst daraus getrunken hat, wie seine Söhne und seine Herden? (Verse 11 und 12)

    Die Frau führt das Gespräch voller Verständnis weiter. Sie will wissen, woher Jesus „das lebendige Wasser“ hat. Aus dem Brunnen kann er es offensichtlich nicht schöpfen wollen, denn er hat „kein Schöpfgefäß und der Brunnen ist tief“. Ahnungsvoll fragt sie weiter: „Bist du etwa größer als unser Vater Jakob…?“

    Jesus antwortete ihr: Wer von diesem Wasser trinkt, wird wieder Durst bekommen; wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird niemals mehr Durst haben; vielmehr wird das Wasser, das ich ihm gebe, in ihm zu einer Quelle werden, deren Wasser ins ewige Leben fließt. (Verse 13 und 14)

    Der antwortende Jesus verbindet zwei Aspekte mit dem Trinken von dem Wasser, das er gibt. Zum einen: Wer davon trinkt „wird niemals mehr Durst haben“. Es geht also nicht um ein Wasser, das nur eine vorübergehende Entlastung verschafft und dann geht es mit der ‚Normalität‘ der knechtenden Verhältnisse weiter. Dieses Wasser zielt auf deren Überwindung. Zum anderen: Dieses Wasser wird „zu einer Quelle werden, deren Wasser ins ewige Leben fließt“. ‚Ewiges Leben‘ ist für Johannes nicht einfach Leben jenseits des Todes, sondern ein Leben, das jetzt schon vorwegnimmt, was jenseits der Grenzen des Todes endgültigen Bestand haben wird. Deshalb verändert das „lebendige Wasser“, das „ins ewige Leben fließt“, jetzt schon das Leben und die Verhältnisse, denen es unterworfen ist.

    Im Blick auf das Leben der Frau gesagt: „Lebendiges Wasser“ soll dazu führen, dass sie nicht immer wieder neu unter der Last ihrer Sklavinnentätigkeit zum Brunnen kommen muss, um Wasser für die ‚Herrschaften‘ herbei zu schleppen. Mit der Sklaverei und der mit ihr verbundenen Schinderei soll es ein Ende haben. Entsprechend bittet die Frau:

    „Herr, gib mir dieses Wasser, damit ich keinen Durst mehr habe und nicht mehr hierherkommen muss, um Wasser zu schöpfen!“ (Vers 15)

    Keinen Durst mehr haben heißt für sie: Ende mit der ganzen Plage der Sklaverei, die sie dazu zwingt, zur Mittagshitze für Wasser zu sorgen. Damit wird ‚ewiges Leben‘ schon vor dem Tod Wirklichkeit. Und so kann die Frau ihren Krug zurück lassen.

    Er sagte zu ihr: Geh, ruf deinen Mann und komm wieder her! Die Frau antwortete: Ich habe keinen Mann. Jesus sagte zu ihr: Du hast richtig gesagt: Ich habe keinen Mann.  Denn fünf Männer hast du gehabt und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann. Damit hast du die Wahrheit gesagt. (Verse 16 bis 18)

    Mit dem Zurücklassen des Krugs ist der Prozess der Befreiung noch nicht zu Ende. Er geht weiter mit Jesu Aufforderung: „Ruf deinen Mann…“ Es geht nicht darum, das moralische Versagen der Frau darzustellen, damit sie auch das ‚hinter sich lassen‘ kann. Das Thema bleibt weiter die Versklavung unter Fremdherrschaft, jetzt in Gestalt männlicher Fremdherrschaft. Es geht um die sog. Leviratsehe, eine Vorschrift, die Frauen dazu zwang, immer wieder neue Ehe einzugehen, um Männern einen Sohn zu gebären in Fällen, in denen die Frau vor der Geburt eines Sohnes gestorben war. Damit sollte die Erbfolge gesichert werden[5] und zugleich das ‚Weiterleben‘ des Mannes in seinen männlichen Nachkommen. Dass solche ‚Kettenehen‘ von Frauen eingegangen wurden, dürfte auch an dem wirtschaftlichen und sozialen Druck gelegen haben, dem sie ausgesetzt waren, wenn sie ‚ohne Mann‘ überleben wollten. „Diese Lage erzwingt auch … ein nichteheliches Arbeits- und Sexualverhältnis mit einem Mann, der der Frau nicht einmal mehr die gewisse Absicherung durch einen Ehevertrag gibt“[6].

    Ton Veerkamp verweist auf einen möglichen Zusammenhang mit der Geschichte Israels. Wenn man davon ausgeht, dass sich die Frau als Tochter Jakobs versteht, dann kommt die Dimension Samariens wieder ins Spiel. Dann kann man auch fragen, welche Herrscher Samarien gehabt hat. „‘Männer’“, so Ton Veerkamp, „sind in Joh 4 nicht irgendwelche individuellen Gatten, sondern ba´alim, Herrscher, Könige, vor denen das Volk von Schomron sich verneigen mußte, die Könige Assurs und Babels, die Könige Persiens und der Griechen aus dem Süden (Ägypten) und dem Norden (Syrien), die Könige Jehudas, ihre Ordnungen, ihre Götter. Die Frau sagt: ‚Ich habe keinen Mann‘, und das heißt: ‚Ich erkenne die faktische Herrschaft, der wir uns zu beugen haben, nicht an. Ich vergesse nicht mein Volk und nicht das Haus meines Vaters!“[7]

    Unter diesen Königen war die Tora nur eingeschränkt lebbar. „Das Ganze ist jetzt auf die Herrschaft von dem, der ‚kein Mann‘ ist, hinausgelaufen, die Herrschaft Roms; da ist gar keine Tora mehr möglich, weder für die Jehudim, noch für die Schomronim, wie wir hören werden.“[8] Da viele Namen in den Evangelien über die Personen hinausweisen, ist eine solche Lesart sicher nicht vorschnell abzutun.

    Die Frau sagte zu ihm: Herr, ich sehe, dass du ein Prophet bist. (Vers 19)

    Jesus erweist sich für die Frau darin als Prophet, dass er sensibel ist für ihre Leiden, es im Zusammenhang erlittenen Unrechts deutet und ihr mit einer befreienden Perspektive begegnet.

    Unsere Väter haben auf diesem Berg Gott angebetet; ihr aber sagt, in Jerusalem sei die Stätte, wo man anbeten muss.  (Vers 20)  

    Die Frau spricht Jesus auf das an, was sie verbindet: „Unsere Väter“ und der Gott der Väter. Mit ihnen steht in jüdischen Traditionen auch der Berg Gerazim in Verbindung. Nach dem Deuteronomium spricht Mose dort den Segen über das Volk, das in das ‚gelobte Land‘ einzieht (Dtn 11,29; 27,12). In dieser Perspektive kommt die Frau auf das zu sprechen, was Samaritaner und Juden trennt: der Tempel in Jerusalem, an dem Gott angebetet werden soll. Dass sie Jesus als Prophet ansprechen kann, entspricht der gemeinsamen Tradition, das Bestehen auf Jerusalem als Ort der Anbetung trennt Juden und Samaritaner.

    Jesus sprach zu ihr: Glaube mir, Frau, die Stunde kommt, zu der ihr weder auf diesem Berg noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet.  (Vers 21)

    Mit der Formulierung „ihr werdet…“ spricht Jesus die Frau als Repräsentantin ihres samaritanischen Volkes an. Die kritische Haltung gegenüber dem Tempel war ja bereits in der Szene von Jesu Tempelreinigung thematisiert worden (Joh 2,13ff). Von daher lässt sich auf der Ebene der Erzählung fragen, ob denn der „zu einer Markthalle“ (2,16) gemachte Tempel ein adäquater Ort der Anbetung von Israels Gott sein kann. Zudem ist in der Zeit, in der Johannes erzählt, der Tempel bereits zerstört. Weder der Gerazim noch Jerusalem ist ein konkreter historischer Ort, an dem Israels Gott angebetet werden kann. Vor diesem Hintergrund entwickelt Jesus seine messianische Alternative, die Judäern und Samaritanern einen Ort in der Geschichte eröffnet.

    Ihr betet an, was ihr nicht kennt, wir beten an, was wir kennen; denn das Heil kommt von den Juden. (Vers 22)

    Ihr habt kein Bewusstsein von dem, was ihr tut. So ließe sich der erste Teil des Satzes zusammenfassen. Im zweiten Teil, in dem es heißt: „Das Heil kommt von den Juden“ positioniert sich Jesus nicht als Judäer gegen die Samaritaner, sondern beruft sich auf die ihnen gemeinsame Perspektive der jüdischen Befreiungsgeschichte. Das Heil kommt aus den ihnen gemeinsamen Traditionen der Befreiung und des darauf gründenden Bundes gegenseitiger Treue. Gott wird da sein auf den Wegen der Befreiung und das Volk soll seinem Gott und seinem Weg der Befreiung treu bleiben. Auf den Wegen von Exodus und Bund haben die Juden ihren Gott kennen gelernt. Sie wissen um ihn, weil es eben nicht um einen unbekannten, einen ‚anonymen‘ Gott geht, sondern um Gott, der Israel erwählt hat und einen Bund mit ihm geschlossen und sich ihm so in einer gemeinsamen Geschichte bekannt gemacht hat. Gott und sein Volk gehören unlösbar zusammen. Rettung gibt es von Gott her, der sich in Partnerschaft an dieses Volk gebunden hat. In dieser Weise gibt es auch durch Jesu Wirken ‚Rettung von den Juden her’, da „der in ihm präsente Gott kein anderer ist als der Gott Israels“[9].

    Wenn Jesus von „wir kennen“ spricht, dann spricht er sowohl aus der Perspektive der Juden und des Erbes der Befreiung, das sie verbindet, als auch aus der Perspektive der messianischen Gemeinde. In ihr ist mit ihrem Bekenntnis zu dem jüdischen Messias Jesus das Heil lebendig, das „von den Juden kommt‘; da der in ihm präsente Gott kein anderer ist als der Gott Israels.“[10]

    Die messianische Gemeinde bezieht also den Satz: „Das Heil kommt von den Juden.“ zugleich auf einen bestimmten Juden: den jüdischen Messias aus Nazaret. Zur Zeit des Johannes ist dieser mit den Juden und Jesus verbundene Begriff ‚Heil‘/Rettung/Befreiung ein politisch höchst brisanter Begriff; denn der Kaiser in Rom beansprucht für das Imperium der Heilsbringer/Retter/Befreier zu sein. Dieser Anspruch verbindet sich mit der Anbetung, der Proskynese, wörtlich damit, vor dem Kaiser zu Boden zu fallen, sich gleichsam vor ihm ‚zum Hund‘ (kynos) zu machen.

    Aber die Stunde kommt und sie ist schon da, zu der die wahren Beter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn so will der Vater angebetet werden. Gott ist Geist und alle, die ihn anbeten, müssen im Geist und in der Wahrheit anbeten. (Verse 23 und 24)

    ‚Die Stunde‘ ist bei Johannes die Stunde der Kreuzigung des Messias und zugleich seiner Verherrlichung durch Gott. In der ‚Stunde‘ seiner Hinrichtung am Kreuz der Römer, „übergab er den Geist“ (Joh 19,20) dem Vater. Sein Weg der Solidarität mit den Opfern römischer Herrschaft und der Treue zu Israels Gott im Widerspruch gegenüber Rom war an sein Zeil gekommen. In diesem Leben ist der Geist, die ‚Inspiration‘ von Israels Gott der Befreiung und der Treue zu denen, die diesen Weg gehen, lebendig. In diesem Geist kann die Macht Roms gebrochen werden. Genau dies hat Israels Gott in der Auferweckung seines von Rom hingerichteten Messias deutlich gemacht. Darin öffnet sich ein Weg der Befreiung für Judäer wie für Samaritaner. Dies wiederum findet seinen Ausdruck darin, dass der Auferstandene, seine JüngerInnen anhaucht und sie den Geist empfangen lässt, der sein Leben bis hinein in seinen Tod am Kreuz der Römer geprägt hat.

    In dieser Perspektive ist die im Namen Jesu versammelte messianische Gemeinde „Ort der Anbetung Gottes“[11]. In ihr ist der Geist lebendig, den Jesus in seinen Abschiedsreden verheißen hat, der Geist, von dem er gesagt hatte: Er „wird euch alles lehren und an alles erinnern, was ich euch gesagt habe“ (Joh 14,25). Diesen „Geist der Wahrheit“ kann „die Welt“, die römische Weltordnung, „nicht empfangen“ (14,15). Er ist mit der Herrschaft Roms nicht in Einklang zu bringen, sondern „Beistand“ (Joh 14,26) für diejenigen, die ihr widerstehen.

    Der neue Ort der Anbetung ist damit zugleich ein neuer sozialer Ort, ein Raum, in dem die erfahrene Befreiung gelebt werden kann. So steht die samaritanische Frau für all diejenigen, die als JüngerInnen in den Gemeinden einen befreienden Raum des Glaubens und Lebens gefunden haben. Hier erfahren sie, dass Jesus „lebendiges Wasser“ ( V10) gibt. Der Raum der Gemeinde ist als Raum derer, die dem Messias Jesus folgen der Raum, in dem mitten in einer Welt des Todes „ewiges Leben“ erfahren werden kann.

    Die Frau sagte zu ihm: Ich weiß, dass der Messias kommt, der Christus heißt. Wenn er kommt, wird er uns alles verkünden. Da sagte Jesus zu ihr: Ich bin es, der mit dir spricht. (Verse 25 und 26)

    Die Frau weiß Bescheid: Damit das alles geschehen kann, muss der Messias kommen. Dann kann der Konflikt zwischen Juden und Samaritern beendet und Israel als Ganzes in der gemeinsamen Erinnerung an „das Heil“, das „von den Juden kommt, aufgerichtet werden. Auf diese Endzeiterwartung der Frau, antwortet Jesus zum ersten Mal mit den Worten „ego eimi“, „ich bin es“, „ich werde da sein“. Johannes gebraucht diese Wendung 24 Mal in seinem Evangelium und erinnert damit an die Offenbarung des  Namens Gottes in Ex 3,14. Der Name Gottes ist mit dem Versprechen verbunden, er werde da sein auf Israels Wegen der Befreiung. Was die Frau für die Endzeit erwartet, ist in Jesus schon da, in dieser Stunde. Wer diese Worte annimmt, für den fängt wirklich ein neues Leben an. Das neue beginnt da, wo die Blockaden im Kopf überwunden werden, wo nicht mehr Juden und Samaritaner zählen, sondern lebendiges Wasser fließt für alle, die im Messias aus Israel den Retter der Welt erkennen.

    Inzwischen waren seine Jünger zurückgekommen. Sie wunderten sich, dass er mit einer Frau sprach, doch keiner sagte: Was suchst du? oder: Was redest du mit ihr? (Vers 27)

    Luise Schottroff hat darauf aufmerksam gemacht, dass eine Interpretation die Jesus im Kontrast zu den Rabbinen sieht, die angeblich nicht mit Frauen reden, zu den alten Topoi „christlichen Antijudaismus“ gehöre[12]. Wenn sich die JüngerInnen wundern, dass Jesus mit dieser Frau redet, wundern sich die JüngerInnen nicht darüber, „daß Jesus mit einer Frau redet“[13], sondern darüber, dass er angesichts seiner Erschöpfung überhaupt noch in der Lage ist zu reden. Auch in der Erschöpfung sucht er eine Begegnung, in der diese Frau die Erfahrung der Befreiung machen kann.

    Die Frau ließ ihren Wasserkrug stehen, kehrte zurück in die Stadt und sagte zu den Leuten: Kommt her, seht, da ist ein Mensch, der mir alles gesagt hat, was ich getan habe: Ist er vielleicht der Christus? Da gingen sie aus der Stadt heraus und kamen zu ihm. (Vere 28 bis 30)

    Bevor die JüngerInnen zurück gekehrt sind, ist alles gesagt und geschehen. Die Frau hat von dem ‚lebendigen Wasser‘ zu trinken bekommen. Nun kann sie den Wasserkrug stehen lassen. Sie kann sich von ihrer Vergangenheit trennen: von der Plage des Wasserschöpfens sowie aus ihrer Verkettung an die Zwangsehen. Sie geht zurück in die Stadt und erzählt den Leuten von ihrer Erfahrung der Befreiung. Sie beginnt selbst zu einer ‚Quelle lebendigen Wassers‘ zu werden, aus der andere trinken können. Am Ende findet sie in der messianischen Gemeinde einen neuen realen Ort, an dem sie aufgehoben ist und leben kann.

    Zusammengestellt von Alexander Just

     

    [1] Wengst, Klaus, Das Johannesevangelium. 1. Teilband: Kapitel 1-10, Stuttgart 2000 (Theologischer Kommentar zum Neuen Testament Bd. 4), 153f. [Wengst, Johannesevangelium]

    [2] Vgl. Ebd., 155.

    [3] Wengst, Johannesevangelium 155.

    [4] Vgl. Luise Schottroff, Die Samaritanerin am Brunnen (Joh 4), in: Auf Israel hören. Sozialgeschichtliche Bibelauslegungen mit Beiträgen von Frank Crüsemann, Jürgen Ebach, Philipp Potter, Luise Schottroff, Dorothee Sölle, Martin Stöhr, Marie-Theres Wacker, Luzern 1992, 115 – 132, hier: 122. [Schottroff, Die Samaritanerin]

    [5] Vgl. Schottroff, Die Samaritanerin 119-122.

    [6] Ebd. 121.

    [7] Veerkamp, Abschied 80.

    [8] Veerkamp, Abschied 80.

    [9] Wengst, Johannesevangelium 165.

    [10] Wengst, Johannesevangelium 165.

    [11] Wengst, Johannesevangelium 166.

    [12] Schottroff, Die Samaritanerin 123f.

    [13] Ebd. 124.


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